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Der
letzte Grieche – Joachim Latacz
Punktgenau
zur Troja-Ausstellung hat er sein großes neues Werk über Homer
vorgelegt. Mit jedem Auftritt beweist Joachim Latacz, dass die alten Griechen
nicht von gestern sind.
Der Mann lebt ganz in dieser Welt. Ohne
lange zu fackeln, recherchiert er im Internet eine späte Zugverbindung
für die Besucherin, mit der er sich verplaudert hat. Dass das Liebesgeflüster
junger Menschen heute über SMS läuft, ist ihm geläufig.
Und wenn ihm danach ist, zitiert er Ikonen der deutschen Fernsehunterhaltung
wie Lisa Fitz oder Verona Feldbusch so wortgetreu wie seinen Homer.
Der Mann lebt aber auch in einer ganz anderen Welt. Schon das Haus, in
dem er arbeitet, atmet Geschichte. "Das Schöne Haus in Basel
ist das älteste noch existierende Steinhaus in der Schweiz",
sagt Joachim Latacz stolz. Es hat gotische Fenster und Familienwappen
an den Deckenbalken der mittelalterlichen Säle, die heute als Seminarräume
dienen. Im Arbeitszimmer des Lehrstuhlinhabers für griechische Philologie
prangt ein Fresko mit zwei Bettelmusikanten. "15. Jahrhundert",
bemerkt der Professor.
Vor dem Fresko hat Joachim Latacz, 67, eine Homerbüste platziert.
Denn die Welt Homers – das ist seine eigentliche Welt. Über
Homer hat er seine Doktorarbeit geschrieben, seine Habilitation und viele
andere Werke. Darunter zwei populäre Sachbücher: "Homer
– der erste Dichter des Abendlandes". Es wurde ins Italienische,
Holländische, Englische und ins Griechische übersetzt.
Im März dieses Jahres, zur Eröffnung der großen Ausstellung
über Troja (Tro"i"a im wissenschaftlichen Sprachgebrauch)
in Stuttgart, legte Latacz nach: "Troia und Homer – der Weg
zur Lösung eines alten Rätsels". In diesem "wissenschaftlichen
Krimi der Sonderklasse", wie ihn bild der wissenschaft genannt hat,
fügt er alle Puzzleteile zusammen, die heute für einen historischen
Kern jenes Trojanischen Krieges sprechen, der die Rahmenhandlung von Homers
Ilias bildet (bild der wissenschaft, 3/2001, "Dichtung wird wahr").
Der Autor leitet seine Indizien dabei aus hethitischen Keilschriftdokumenten
ebenso ab wie aus mykenischen Tontäfelchen; er verarbeitet die aktuellen
Grabungsergebnisse aus Troja, Theben und Milet.
Nicht nur von interessierten Laien, an die es gerichtet ist, wurde ihm
das Buch aus den Händen gerissen – nein, auch die Fachwelt griff
begierig zu. "Ich bekomme viele Briefe von Wissenschaftlern der verschiedensten
Disziplinen", berichtet Latacz. "Und alle sind dankbar, dass
einer das alles mal zusammengefasst hat." Wie viel Arbeit das war,
kann man nur ahnen. Doch am Schluss kann der Autor befriedigt schreiben:
"Die frühere Ungewissheit schwindet, und die Lösung scheint
näher denn je zu liegen. Es würde nicht verwundern, wenn das
Resultat bereits in naher Zukunft lauten würde: Homer ist ernst zu
nehmen."
Die griechischen Schriftsteller, Rhetoren, Geschichtsschreiber –
sie stammten alle aus der Oberschicht. "Sie schrieben aus Spaß,
nicht weil sie ihren Unterhalt damit verdienen mussten. Und sie schrieben
für ihresgleichen: Adel dichtete für Adel. Ihre Vorfahren, wie
sie bei Homer erscheinen, lebten auf Landgütern, gingen auf die Jagd,
und sie reisten viel – per Schiff und auf zweirädrigem Wagen.
Sie verfügten in ihren Herrenhäusern über alle Errungenschaften
der Kultur, des Luxus und der Moden. Dazu gehörte natürlich
auch der Vortrag der alten Heldenlieder." Der Aoidos (Sänger)
improvisierte dabei seine Texte in Versform und begleitete sich mit Akkorden
auf der Phorminx, einem Saiteninstrument. Manche Adligen spezialisierten
sich auf diese zunächst rein mündliche Kunst – so wahrscheinlich
auch Homer. Das Besondere an Homer: Er war wohl der erste griechische
Sängerdichter, der seine Hexameterverse niederschrieb. Denn die Alphabet-Schrift
hatten die Griechen erst wenige Jahrzehnte vor Homers Geburt von den Phöniziern
übernommen und an ihre Sprache angepasst.
Latacz: "Das eröffnete einem Sänger natürlich ganz
neue Möglichkeiten. Er konnte viel größere Komplexe bauen."
Homer holte groß aus: Seine Ilias hat knapp 16000, die Odyssee über
12000 Verse. Beide Epen sind kompliziert strukturiert, mit vielen Vor-
und Rückblenden. "Schon das Konzept muss schriftlich gewesen
sein", vermutet der Baseler Professor und erzählt, wie rasch
die Ilias zum antiken Bestseller wurde, zur "Nationalhymne der Griechen".
In griechischen Kolonien wie Pithekussai (heute Ischia) las man die Ilias
bereits gegen Ende des 8. Jahrhunderts v.Chr.
Über Homer weiß Joachim Latacz wirklich alles. Man kann den
Griechenfreund aber auch zur Dichterin Sappho befragen. Oder zur antiken
Tragödie. Zum Beginn des naturwissenschaftlichen Denkens bei den
Griechen. Aber er weiß auch Bescheid über die Berufschancen
von Altphilologen in der heutigen Mediengesellschaft. Über den Stellenwert
der Indogermanistik. Über die hethitische Keilschrift. Über
Friedrich Nietzsche, über Christa Wolf.
Man kann Joachim Latacz fast zu jedem Thema befragen – das heißt,
wenn man mal zu Wort kommt. Denn das Reden – es ist ein kontinuierliches
Plaudern auf jedem gerade angemessenen Bildungsniveau – besorgt der
Philologe (zu deutsch: der Wortfreund) am liebsten selbst.
"Wo Latacz auftritt, sind die Säle gefüllt, weil er immer
interessant ist", sagt sein Freund, der Archäologe und Troja-Ausgräber
Manfred Korfmann, selbst nicht gerade ein Langweiler. Latacz unterhält
auch seine Leser aufs Anregendste. "Ich habe Joachim Latacz schon
als Schüler gut gefunden", erinnert sich sein wissenschaftlicher
Assistent Reto Zingg, 29. "Seine Artikel in der Neuen Zürcher
Zeitung habe ich gern gelesen. Und sein Homerbuch hat mir tierisch gut
gefallen." Als Student erlebte er dann Latacz life. "Temperamentvoll
war er und immer voller Power. Immer auf hundert, auch während der
Übungen!" Leider sei das Vergnügen bald vorbei, denn sein
Chef lässt sich nächstes Jahr emeritieren.
Der Spaß am Reden hat Tradition, er ist urgriechisches Erbe. Man
muss nur Homer lesen. Fast auf jeder Seite wird da geschimpft und geflucht
("Mann des Unglücks!", "Schwätzer von krausem
Zeug!", "Schande, Argeier! Nichtsnutze und Schönlinge alle
zusammen!"). Es wird geschmeichelt und gefleht, gedroht, gespottet,
gefeiert, gelacht und geweint. Seien es Menschen oder Götter, bei
Homer ist keiner auf den Mund gefallen.
Rund 67 Prozent von Homers Epen sind wörtliche Rede, hat Joachim
Latacz ausgerechnet. Kein Wunder, bedeutet "epos" doch im Griechischen
nichts anderes als "Wort". "Das Wort war das Wichtigste",
sagt der Homer-Kenner. Und wo lernt man schreiben, wo lernt man Texte
analysieren und verstehen? Natürlich im Sprachenunterricht, etwa
beim Versuch, Homer, Aristoteles oder auch Xenophon ins Deutsche zu übertragen.
"Durchpflügt vom Rotstift" habe er seine Übungen nach
der Korrektur durch seinen akademischen Lehrer Latacz oft zurückbekommen,
erinnert sich Reto Zingg. Aber das habe ihn gelehrt, "genauer zu
werden, saubere Arbeit abzuliefern, auch im Detail".
Doch müssen es heute noch wie im 19. Jahrhundert die alten Sprachen,
muss es Latein und Griechisch sein? Ist ein perfektes Englisch nicht wichtiger?
Italienisch im Urlaub nicht nützlicher? Liegt nicht Chinesisch im
Trend? Der Altphilologe Latacz hat überhaupt nichts gegen moderne
Sprachen. Schließlich spricht er selbst Englisch, liest Französisch,
Italienisch und Spanisch und hat neben Griechisch, Latein, Indogermanistik,
Alter Geschichte, Klassischer Archäologie und Philosophie auch noch
Russisch studiert. "Eine moderne Sprache, die sechs Fälle hat
– wunderbar!"
Aber auf Griechisch verzichten? "Das würde ja bedeuten, die
Wurzeln abzuschneiden", protestiert Joachim Latacz. "Mit den
Griechen hat doch alles angefangen! Unser Recht, unsere Philosophie, unsere
Einstellung zur Natur – das alles ist doch griechisch geprägt!
Wir sprechen doch heute noch lateinisch und griechisch!" Er hat einmal
einen 26-Zeilen-Text zu einem medizinischen Thema analysiert – unter
193 Wörtern fand er 41, die aus dem Griechischen oder Lateinischen
stammen. Nur wenn man den Anfang der eigenen Kulturentwicklung kenne,
könne man auch den Bogen spannen bis zur Gegenwart, sagt Latacz.
"Die jungen Leute hängen in der Luft. Sie wissen viel, können
ihr Wissen aber nicht mehr einordnen, und sie leiden unter ihrer Oberflächlichkeit.
Wenn sie dann zu uns kommen und erfahren, wie alles angefangen hat, dann
ist das für viele eine Erholung und Befreiung aus einer im Inneren
chaotischen Wissenssituation."
Bei diesem Thema kann der Philologe richtig missionarisch werden. So bei
der Pressekonferenz zur Eröffnung der Troja-Ausstellung in Stuttgart:
Befragt zu Homer, sprang Joachim Latacz von seinem Sitz auf, fuchtelte
mit den Händen, und die Antwort kulminierte in einer Brandrede zur
Rettung des Griechisch-Unterrichts. Die Nebensitzer zogen den aufgeregten
Professor auf seinen Sitz zurück. Peinlich ist ihm das nicht, nicht
im geringsten. "Noch ist Griechisch nicht verboten", zitiert
er zustimmend die Theologin Dorothee Sölle.
Gegen politische Gängelung ist der Freigeist nämlich empfindlich,
und das hat mit seiner Jugend zu tun, die "eine Odyssee" war,
eine Irrfahrt durch zwei Diktaturen. 1934 in Kattowitz in Oberschlesien
geboren, erlebt er als Schulkind unter der Nazibesatzung, wie die jüdischen
Mitschüler verschwinden. Und: "Den Kindern der Deutschen war
es verboten, Polnisch zu sprechen."
Latacz ist ein Kind von Deutschen: "Väterlicherseits Lehrer
und Rektoren bis zurück ins 17. Jahrhundert, mütterlicherseits
freie Bauern. Wie der polnische Name in die Familie kommt, weiß
keiner so recht." Die Eltern sprechen selbstverständlich beide
Sprachen, und zwar perfekt. Im Januar 1945 dann das jähe Ende der
deutschen Herrlichkeit. Joachims Vater, ein Industriemanager, wird zum
Volkssturm eingezogen und gerät für drei Jahre in russische
Gefangenschaft. Die Mutter muss mit den drei Söhnen westwärts
fliehen. Ein ganzes Jahr verbringt die vaterlose Familie in Zügen,
in Waggons auf Abstellgleisen, in Scheunen, vom Roten Kreuz versorgt.
In einem kleinen Ort an der deutsch-tschechischen Grenze erleben sie erst
den Einmarsch der Amerikaner, dann den der Russen.
Schließlich bleiben die Lataczs in Halle an der Saale hängen.
Dort wird Joachim, der Älteste, an der Lateinschule, der "Latina
der Franckeschen Stiftungen", eingeschult. Nicht ohne weiteres allerdings,
denn die Schule ist überfüllt. Die Mutter kämpft. "Der
Junge ist hoch begabt, der Junge bleibt hier", bedrängt sie
den Rektor. "Herr Oberstudiendirektor, ich bleibe so lange auf diesem
Stuhl sitzen, bis der Junge eingeschult wird." Schließlich
gibt der Rektor nach. "Es gibt aber nur noch einen Platz hinterm
Ofen." Nach dem Abitur nimmt Joachim Latacz in seiner neuen Heimatstadt
das Studium der Altertumswissenschaften auf. Griechisch sei in der DDR
nicht verboten gewesen, sagt er, aber suspekt, weil die griechische Literatur
zum selbstständigen Denken erziehe. "Denken Sie an Antigone.
Da wird ja der Aufstand gegen die Staatsgewalt geprobt!"
Seinen eigenen Aufstand probt der Jungakademiker 1956, im dritten Studienjahr.
Joachim Latacz setzt sich gegenüber einer Gruppe von staatlichen
Jugendfunktionären für eine Kommilitonin ein, die wegen ihres
Glaubens und ihrer Kontakte zu westdeutschen Studenten in den Ruch einer
"Klassenfeindin" geraten ist. Die Folge: Beiden, der Studentin
und ihrem energischen Fürsprecher, bleibt nur die "Republikflucht".
Man hätte sie sonst zwangsexmatrikuliert, eventuell sogar inhaftiert.
Auf abenteuerlichen Wegen schmuggelt sich der Student per Zug und S-Bahn
durch die Kontrollposten rund um Berlin. Die Mauer steht noch nicht, er
schafft es bis in den Westen. Dort, an der Freien Universität Berlin,
ist Joachim Lataczs Odyssee vorerst zu Ende. Er stürzt sich exzessiv
ins Studium: "Täglich 12 bis 14 Stunden Lernen, mit Freude und
mit Begeisterung." Das Studium ist der Beginn einer akademischen
Karriere, die ihn über die Stationen Hamburg, Würzburg und Mainz
auf seinen heutigen Lehrstuhl an der Universität Basel führt.
In Hamburg hat der junge Gräzist von 1960 bis 1965 am "Thesaurus
Linguae Graecae" mitgearbeitet. Für Uneingeweihte: Das ist das
größte Griechisch- Lexikon der Welt. Jede Vokabel soll darin
vorkommen – mit ihren sämtlichen Fundstellen und Bedeutungen
in der gesamten altgriechischen Literatur.
1955 erschien der erste Band. Die Herausgeber begannen mit der Literaturgattung
Epos und dort mit den Wörtern, die mit alpha (a) beginnen, wie anthropos
(Mensch). Heute, im Jahr 2001, ist man immer noch beim Epos, doch inzwischen
beim Buchstaben omikron (o) angekommen, also in der zweiten Hälfte
des Alphabets.
Joachim Latacz hat sich mit seinen Baseler Mitarbeitern noch Großes
vorgenommen: einen modernen Kommentar zu Homers Ilias mit Neu-Übersetzung,
adressiert an alle Literaturfreunde und Literaturwissenschaftler. Drei
Bände sind im Jahr 2000 erschienen: die "Prolegomena" (grundsätzliche
Vorfragen) sowie Text mit Übersetzung und Kommentar zum ersten Gesang.
23 Gesänge sind also noch zu übersetzen und zu kommentieren.
Ob der Initiator das Ende erleben wird, ist fraglich.
Zur Zeit besteht seine Arbeitswoche jedenfalls aus "60 bis 80 Stunden
durchschnittlich", schätzt Latacz. "Er ist ein Workaholic
wie ich, deswegen verstehen wir uns wohl so gut", sagt Freund Manfred
Korfmann.
Und wofür das alles? Selbst in den Schulen Griechenlands soll jetzt
der Altgriechisch-Unterricht stark zurückgeschnitten werden, berichtet
Joachim Latacz. Zusammen mit griechischen Intellektuellen hat er in Zeitungsartikeln
immer wieder dagegen protestiert, vermutlich vergeblich. Ihm entfährt
der bittere Satz: "Das Land, dessen Kultur man verbreiten wollte,
ist so töricht, diese Kultur einzustampfen!"
Auf der anderen Seite: Menschenschlangen vor der Troja-Ausstellung in
Stuttgart und Braunschweig. Briefe und E-Mails voller Fragen an den Autor
des Homer-Buches. Und ein frisch entflammter Gelehrtenstreit um Troja
in allen Gazetten. "Interesse! Interesse!"
Vielleicht die Vorboten eines neuen Humanismus, der für die kommende
Wissensgesellschaft die Griechen neu entdeckt? Latacz hält das für
möglich. "Nach den schlimmsten Angriffen auf die Altphilologie
sind die Schülerzahlen bisher immer angestiegen", hat er optimistisch
beobachtet.
Und macht beharrlich weiter. Noch ist Griechisch nicht verboten.
JUDITH RAUCH
Kompakt
1934: Joachim Latacz wird als Sohn deutscher Eltern im oberschlesischen
Kattowitz geboren.
Ab 1946: Gymnasiast in Halle/Saale; Lieblingsfächer: Griechisch,
Latein, Russisch
1953: Abitur und Beginn eines umfassenden Studiums der Altertumswissenschaften
1956: Flucht aus der DDR
1963: Promotion, 1972 Habilitation mit Themen zu Sprache und Dichtung
Homers
Seit 1981: Lehrstuhl für Griechische Philologie an der Universität
Basel, Schweiz
Ab 1984: Reisen zu den neuen Ausgrabungen bei Troja
2001: Lataczs Buch "Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines
alten Rätsels" erscheint und wird innerhalb kurzer Zeit viermal
neu aufgelegt.
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