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Sagenhaftes
Troja
Helden,
Kämpfe und ein hölzernes Pferd - die Epen Homers haben eine
Stadt unsterblich gemacht
Der Tag beginnt früh in Troja. Beim
ersten Licht hat uns der Gebetsruf eines Muezzins geweckt und daran erinnert,
dass wir in der Türkei sind. Nun laufen wir, ein Grüppchen Besucher,
vom Hotel zum Burghügel hinüber. Vorbei an einem riesigen dunklen
Holzpferd, das als Touristenattraktion den Eingang zur archäologischen
Grabungsstätte weist. Jetzt, um halb sechs, sind noch keine Touristen
zu sehen.
Im Grabungshaus, einem schlichten Flachbau, sitzt eine Gruppe von Archäologen
beim Frühstück: 78 Männer und Frauen aus elf Ländern;
Deutsche und Amerikaner, Türken und Osteuropäer. Kurz vor sechs
machen sich alle auf, greifen nach ihren Notizbüchern, holen Schubkarren,
Spaten und andere Gerätschaften aus den Depots. Arbeiter aus den
umliegenden Dörfern stoßen hinzu. Eine kurze Begrüßung
durch den deutschen Grabungsleiter, Prof. Manfred Korfmann, und das Team
schwärmt aus.
Der Archäologe führt uns Besucher zur Ostseite des Burgbergs.
Staunend stehen wir vor einer Mauer aus glatt behauenen, wohlgefügten
Bruchsteinen, die, schräg an den Fels gelehnt, sechs Meter emporragt.
Stellt man sich vor, dass darüber einst noch mehrere Lagen Lehmziegel
aufgeschichtet waren, wirkt das schon sehr eindrucksvoll. Korfmann malt
uns aus, wie hier - über 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung - Krieger
herangestürmt sein könnten, "in der Rechten das Schwert,
in der Linken den Schild".
Ein
Dichter recherchiert
Vor diesen Mauerresten hat vielleicht auch
einmal Homer gestanden, der den Griechen der Antike als der Dichter schlechthin
galt. Er wurde vermutlich um 770 v. Chr. als Adliger in Smyrna geboren.
Smyrna, heute Izmir, liegt knapp 200 Kilometer südlich von Troja
an der türkischen Westküste. Zu Homers Zeiten war es griechische
Kolonie.
Homer kannte die vielen Geschichten, die sich um Troja rankten. Hatten
doch einst griechische Könige aus heroischer Vorzeit ihre Paläste
verlassen und waren mit Schiffen hierher nach Kleinasien gekommen: allen
voran Agamemnon, Achilles und Odysseus. Sie wollten die Entführung
der spartanischen Königin Helena rächen. Die Entführte
lebte mittlerweile zufrieden mit dem trojanischen Königssohn Paris
zusammen in der Burg von Troja, das damals auch Ilios hieß. Zehn
Jahre belagerte das griechische Heer die gut befestigte Stadt - vergebens.
Erst durch eine List des Odysseus, so erzählte man, sei es schließlich
gelungen, Troja zu stürmen. Er hieß das Gros der Griechen absegeln,
allerdings nur zum Schein, und versteckte Bewaffnete in einem großen
hölzernen Pferd. Das Pferd hielten die Trojaner für ein Geschenk
und zogen es in die Stadt. Die griechischen Krieger kletterten nachts
heraus und zerstörten Troja.
Homer bedient sich aus diesem reichen Sagenstoff und verfasst zwei große
Epen: Die Ilias hat Achilles zur Hauptperson und den Krieg um Troja als
Handlungskulisse. Die Odyssee beschreibt die späte Heimkehr des Kriegsteilnehmers
Odysseus nach vielen Irrfahrten zur See; in Rückblicken thematisiert
sie auch dessen Abenteuer im Trojanischen Krieg. Beide Werke wurden schon
kurz nach ihrer Niederschrift um 730 v.Chr. Bestseller, Schullektüre
und Inspiration für Vasenmaler. So verbreitete sich Trojas Ruhm über
die gesamte gebildete Welt.
Der
Wind bringt Reichtum
Aber wie bedeutend war Troja wirklich?
Woher stammte der sagenhafte Reichtum der Stadt? Nachdem wir die steile
Treppe neben der Nordostbastion der trojanischen Mauer hinaufgestiegen
sind und auf dem Plateau des Burghügels stehen, können wir es
ahnen: Die geographische Lage machte Troja so erfolgreich. Im Westen und
Norden liegt uns das Meer zu Füßen.
Über die Ägäis im Westen kamen nach der Vorstellung Homers
die Griechen gesegelt. "Wer auch immer 'Homer' war, er stellte
sich wohl vor, dass sie ihre bauchigen, kiellosen Schiffe dort drüben
in der Besik-Bucht an Land gezogen haben", sagt Korfmann und deutet
mit dem Finger hinüber. Im Norden glänzt der schmale Wasserstreifen
der Dardanellen vor der Halbinsel Gallipoli. Hellespont nannte man diese
Meerenge in der Antike. Dort hindurch musste, wer ins Marmarameer und
dann weiter nordostwärts durch den Bosporus ins Schwarze Meer segeln
wollte. Doch da an dieser Stelle meist ein scharfer Nordostwind bläst,
mussten die Seeleute der Antike in einem windstillen Becken vor Troja
auf ruhigeres Wetter warten, vielleicht in der Besik-Bucht. "Der
Wind brachte Troja den Reichtum", sagt Manfred Korfmann. Korfmann
glaubt, dass die Stadt wegen ihrer günstigen Lage schon früh
- im 3. Jahrtausend v. Chr. - vom Seehandel profitierte.
Ein
Kaufmann gräbt
Dass Troja damals reich war, hat ein anderer
Archäologe bewiesen, wenn auch aus Versehen: Heinrich Schliemann.
Um das Jahr 1870 begann der deutsche Kaufmann nach Vorarbeiten des Briten
Frank Calvert hier am Hellespont mit systematischen Grabungen. Beide waren
aufgrund der Beschreibungen Homers überzeugt, dass nur hier, unter
dem 31 Meter hohen, überwachsenen Hügel, die Ruinen des sagenhaften
Troja liegen konnten. Schliemann liebte die Dichtungen Homers. Er glaubte
an die Ilias wie an ein Geschichtsbuch. Der reiche Deutsche heuerte Arbeiter
an, ließ eine 40 Meter breite und 17 Meter tiefe Schneise durch
den Hügel graben, bis hinunter auf den Fels.
Wir stehen im Schatten eines Olivenbaumes und schauen in eben diesen Graben
hinunter. Wir blicken auf die Mauerreste, auf die Schliemann zuunterst
stieß: Fundamente lang gestreckter Häuser aus der frühen
Bronzezeit, also der Zeit um 2900 v. Chr. In einigen Häusern waren
unter dem Fußboden Kinder bestattet, deren Skelette bei der Grabung
zum Vorschein kamen.
Aus heutiger Sicht sind das interessante Funde. Für Schliemann waren
sie wertlos, suchte er doch den Palast des Königs Priamos. Als er
auf prachtvollen Goldschmuck und Gefäße aus Gold, Silber und
Bronze stieß, glaubte er, den "Schatz des Priamos" gefunden
zu haben. In Wirklichkeit hielt er jedoch einen Beweis für Trojas
Reichtum um 2500 v. Chr. in der Hand. Einer Zeit also, in der in Griechenland
noch keine Paläste standen, im anatolischen Troja aber offensichtlich
schon luxuriös gelebt wurde und schon weit reichende Handelsbeziehungen
bestanden. Schliemann hatte zu tief gegraben.
Ein
Haus entsteht neu
Was war passiert? Erst Schliemanns Nachfolger
Wilhelm Dörpfeld und Carl W. Blegen fanden die Erklärung: In
Troja häuft sich schon seit Jahrtausenden Siedlungsschicht auf Siedlungsschicht.
Die zerstörten Teile wurden überbaut, und der Hügel wuchs
immer höher.
"Der Grund dafür ist die anatolische Lehmziegelbauweise",
erläutert uns Manfred Korfmann. "Der Lehm wird mit Stroh und
Häcksel gemischt, die Ziegel von Hand geformt und an der Luft getrocknet.
Und wenn solch ein Haus zerstört ist, nimmt man nur Holz und Bruchsteine
zur weiteren Verwendung heraus. Die Ziegel lässt man liegen und überbaut
den Lehmschutt irgendwann."
Damit sich die Troja-Touristen vorstellen können, wie so ein Haus
aussah, lässt der Grabungsleiter auf dem Burgberg eines nachbauen.
Wir sehen, wie Arbeiter die Wände verputzen und wie der Neubau rot
und fremd und seltsam vollständig in der Trümmerwüste steht,
als die sich der Burgberg von Troja heute präsentiert.
Die
Trojaner verlieren den Krieg
Generationen von Archäologen haben
geklärt, wie die Stadt zu verschiedenen Zeiten ausgesehen hat, und
heute hilft, wie Korfmann betont, "auch der Computer zu veranschaulichen,
wie es war oder gewesen sein könnte". Zehn große Siedlungsetappen
zählt man: von den ältesten bronzezeitlichen Langhäusern
(Troja I, ab 2920 v.Chr.) bis zur byzantinischen Epoche im 13./14. Jahrhundert
n.Chr. (Troja X). Am elegantesten sah die Stadt wohl während der
griechischen Zeit aus (Troja VIII, ab 700 v. Chr.), als ein Nachfolger
Alexanders des Großen hier einen Marmortempel errichten ließ;
am bombastischsten unter den Römern (Troja IX, ab 85 v. Chr.), die
zwei Theater und eine Badeanlage bauten.
Am interessantesten aber ist für Historiker wie für Laien das
Troja, das Homer beschreibt. "Sofern die Sage vom Trojanischen Krieg
einen historischen Kern hat, kommen dafür nur die Schichten VI und
eher noch VIIa in Frage", sagt Korfmann. Vielen Sagen liegen historische
Ereignisse zugrunde, und Literaturwissenschaftler halten es heute für
möglich, dass auch die Troja-Erzählungen nicht ganz erfunden
sind. Troja VI, die Stadt mit den von Homer besungenen "schönen
Mauern", wurde den archäologischen Befunden nach um 1300 v.Chr.
durch ein Erdbeben zerstört. Die Bewohner der Bauphase VIIa reparierten
die Mauern und bauten innen kleine Häuser an sie an. "Offensichtlich
rückte man auf der Burg enger zusammen", sagt Korfmann. Zeichen
für eine Belagerung? Beweise gibt es nicht. Nur Indizien dafür,
dass Troja kurz nach 1200 einen Krieg verlor und in Flammen aufging: Waffenfunde,
unbestattete Skelette, Brandschutt.
Ein
Pflaster wird abgetragen
Die aktuellen Grabungen des Korfmann-Teams
konzentrieren sich auf die Unterstadt von Troja VI und Troja VII und deren
nähere Umgebung: ein ziemlich großer Bezirk, rund 230 000 Quadratmeter,
am Westhang der Burg. Die Unterstadt ist als archäologisches Neuland
für Touristen gesperrt. Wir Besucher können nur Wiesen und Felder
erkennen, in die an wenigen Stellen quadratische Gruben eingeschnitten
sind. In diesen "Schnitten", wie die Archäologen ihre Erdgruben
nennen, stehen junge Männer und hantieren mit Messstäben. Alle
tragen Strohhüte, denn inzwischen brennt die Mittagssonne herunter
auf das trockene Land.
Wir treten näher. Ralf Becks aus Tübingen, 34, seit 1993 jeden
Sommer in Troja, legt direkt unterhalb der Burgmauer zwischen Häuserresten
aus der Troja-VII-Periode Scherben, Muscheln und Knochenreste frei. Alle
diese Dinge werden später genau untersucht, weil sie Aufschluss über
den Alltag der Bewohner geben. In einem der Häuser hat Becks die
kleine Statue einer anatolischen Gottheit gefunden.
An einer anderen Stelle - Korfmann vermutet dort ein ehemaliges Handwerkerviertel
- trägt Dr. Marcus Müller, ebenfalls ein erfahrener Mitarbeiter
des Tübinger Teams, ein Steinpflaster ab. "Der schöne Boden!
Warum machen Sie das?", entfährt es mir. "Könnte man
den nicht erhalten und restaurieren?" Müller zuckt bedauernd
mit den Achseln. Wenn er nach Troja VI hinunter will, muss er die darüber
liegende Schicht zerstören. "Archäologie ist leider immer
mit Zerstörung verbunden", sagt er. Er versichert uns, dass
vor dem Abtragen der Steine alles fotografiert, gezeichnet und vermessen
wird. Am nächsten Tag wird er hier tatsächlich etwas Interessantes
ans Licht holen: einen Mahlstein und eine Gerätschaft zum Spinnen
aus Troja VI, die Hinweise auf die dort ausgeübten handwerklichen
Tätigkeiten geben.
Eine
Operation geht schief
"Archäologen sind Operateure
in einem kulturellen Körper", erklärt Korfmann, bevor er
uns in die Mittagspause entlässt. Am Grabungshaus strecken von der
Hitze erschöpfte Archäologen im spärlichen Schatten Arme
und Beine aus.
Am Nachmittag stellen wir fest, dass das mit den Operateuren manchmal
ganz wörtlich zu nehmen ist. Dr. Henrike Kiesewetter, Ärztin
und Archäologin aus Tübingen, hat auf ihrem Schreibtisch in
einer der Grabungsbaracken einen Schädel liegen. Vor wenigen Tagen
wurde er aus einem Grabungsloch direkt vor der Burgmauer geborgen. Er
stammt von einem jungen Mann, der um 1700 v. Chr. gelebt hat. Nach Korfmanns
Einschätzung ist der Schädel "eine Besonderheit":
Ein viereckiges Loch im Knochen zeugt von einer Hirnoperation.
"Diese Operation ging schief", sagt Kiesewetter. "Der Patient
hat sie nicht überlebt. Er muss verblutet sein. Der Operateur hat
nämlich eine große Arterie durchtrennt." Sie dreht den
Schädel um und zeigt uns die im Schädelinneren verlaufende Rille,
in der das Blutgefäß eingebettet war. Allerdings ist es auch
möglich, dass der Schädel erst kurz nach dem Tod geöffnet
wurde.
Eine
Höhle wird erkundet
Am nächsten Tag zieht es uns zu einem
Ort, von dem Korfmann beim Rundgang mit besonderer Ehrfurcht gesprochen
hat: einer Quellhöhle, deren Eingang rund 200 Meter südwestlich
der Burg versteckt an einem Abhang liegt. Diese oder eine ganz ähnliche
Höhle hat schon Homer in seiner Ilias erwähnt. Homers Landschaftsbeschreibung
folgend hatte bereits Schliemann sie gesucht und gefunden.
Ihr Eingang ist von einem Feigenbaum überschattet und mit antiken
Waschgruben ausgestattet. Wir folgen Achim Lehmkuhl einige Meter in den
feuchten, kühlen Gang hinein. Lehmkuhl, im Hauptberuf Präparator
von Fossilien am Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart und
in der Freizeit Höhlenforscher, wagt sich noch weiter: Er zwängt
sich durch ein Loch, hinter dem ein kaum mannshoher, schmaler Gang unter
den Siedlungsresten der trojanischen Unterstadt noch über 100 Meter
weit in den Hügel hineinführt. In diesen Gang münden von
oben mehrere Brunnenschächte.
Manfred Korfmann hält die Karsthöhle für ein Wasserbergwerk,
wie es sie auch in Persien gibt. Möglicherweise ist es aber auch
ein heiliger Ort, an dem eine anatolische Gottheit verehrt wurde. "Weiter
innen gibt es schöne Stalaktiten", schwärmt Lehmkuhl, bis
zu den Knien im Wasser stehend. Aber wir gehen zurück, denn gleich
gibt es Abendessen. Es ist 18 Uhr. In Troja endet der Tag früh.
Wir Besucher sitzen noch eine Weile vor der Höhle und schauen zur
Burg hinauf, wo die letzten Touristen herumspazieren. Ich male mir aus,
wie die Trojaner mit ihren Streitwagen zur Besik-Bucht hinuntergerast
sind, um das Schiffslager der Griechen anzugreifen. Heute Abend aber fährt
nur Manfred Korfmann mit seinem weißen Geländewagen dort hinunter
- zum Schwimmen.
JUDITH RAUCH
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