Judith Rauch schreibt: Reader´s Digest Oktober 2001

Sagenhaftes Troja
Helden, Kämpfe und ein hölzernes Pferd - die Epen Homers haben eine Stadt unsterblich gemacht

Der Tag beginnt früh in Troja. Beim ersten Licht hat uns der Gebetsruf eines Muezzins geweckt und daran erinnert, dass wir in der Türkei sind. Nun laufen wir, ein Grüppchen Besucher, vom Hotel zum Burghügel hinüber. Vorbei an einem riesigen dunklen Holzpferd, das als Touristenattraktion den Eingang zur archäologischen Grabungsstätte weist. Jetzt, um halb sechs, sind noch keine Touristen zu sehen.

Im Grabungshaus, einem schlichten Flachbau, sitzt eine Gruppe von Archäologen beim Frühstück: 78 Männer und Frauen aus elf Ländern; Deutsche und Amerikaner, Türken und Osteuropäer. Kurz vor sechs machen sich alle auf, greifen nach ihren Notizbüchern, holen Schubkarren, Spaten und andere Gerätschaften aus den Depots. Arbeiter aus den umliegenden Dörfern stoßen hinzu. Eine kurze Begrüßung durch den deutschen Grabungsleiter, Prof. Manfred Korfmann, und das Team schwärmt aus.

Der Archäologe führt uns Besucher zur Ostseite des Burgbergs. Staunend stehen wir vor einer Mauer aus glatt behauenen, wohlgefügten Bruchsteinen, die, schräg an den Fels gelehnt, sechs Meter emporragt. Stellt man sich vor, dass darüber einst noch mehrere Lagen Lehmziegel aufgeschichtet waren, wirkt das schon sehr eindrucksvoll. Korfmann malt uns aus, wie hier - über 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung - Krieger herangestürmt sein könnten, "in der Rechten das Schwert, in der Linken den Schild".



Ein Dichter recherchiert

Vor diesen Mauerresten hat vielleicht auch einmal Homer gestanden, der den Griechen der Antike als der Dichter schlechthin galt. Er wurde vermutlich um 770 v. Chr. als Adliger in Smyrna geboren. Smyrna, heute Izmir, liegt knapp 200 Kilometer südlich von Troja an der türkischen Westküste. Zu Homers Zeiten war es griechische Kolonie.

Homer kannte die vielen Geschichten, die sich um Troja rankten. Hatten doch einst griechische Könige aus heroischer Vorzeit ihre Paläste verlassen und waren mit Schiffen hierher nach Kleinasien gekommen: allen voran Agamemnon, Achilles und Odysseus. Sie wollten die Entführung der spartanischen Königin Helena rächen. Die Entführte lebte mittlerweile zufrieden mit dem trojanischen Königssohn Paris zusammen in der Burg von Troja, das damals auch Ilios hieß. Zehn Jahre belagerte das griechische Heer die gut befestigte Stadt - vergebens. Erst durch eine List des Odysseus, so erzählte man, sei es schließlich gelungen, Troja zu stürmen. Er hieß das Gros der Griechen absegeln, allerdings nur zum Schein, und versteckte Bewaffnete in einem großen hölzernen Pferd. Das Pferd hielten die Trojaner für ein Geschenk und zogen es in die Stadt. Die griechischen Krieger kletterten nachts heraus und zerstörten Troja.

Homer bedient sich aus diesem reichen Sagenstoff und verfasst zwei große Epen: Die Ilias hat Achilles zur Hauptperson und den Krieg um Troja als Handlungskulisse. Die Odyssee beschreibt die späte Heimkehr des Kriegsteilnehmers Odysseus nach vielen Irrfahrten zur See; in Rückblicken thematisiert sie auch dessen Abenteuer im Trojanischen Krieg. Beide Werke wurden schon kurz nach ihrer Niederschrift um 730 v.Chr. Bestseller, Schullektüre und Inspiration für Vasenmaler. So verbreitete sich Trojas Ruhm über die gesamte gebildete Welt.



Der Wind bringt Reichtum

Aber wie bedeutend war Troja wirklich? Woher stammte der sagenhafte Reichtum der Stadt? Nachdem wir die steile Treppe neben der Nordostbastion der trojanischen Mauer hinaufgestiegen sind und auf dem Plateau des Burghügels stehen, können wir es ahnen: Die geographische Lage machte Troja so erfolgreich. Im Westen und Norden liegt uns das Meer zu Füßen.

Über die Ägäis im Westen kamen nach der Vorstellung Homers die Griechen gesegelt. "Wer auch immer 'Homer' war, er stellte sich wohl vor, dass sie ihre bauchigen, kiellosen Schiffe dort drüben in der Besik-Bucht an Land gezogen haben", sagt Korfmann und deutet mit dem Finger hinüber. Im Norden glänzt der schmale Wasserstreifen der Dardanellen vor der Halbinsel Gallipoli. Hellespont nannte man diese Meerenge in der Antike. Dort hindurch musste, wer ins Marmarameer und dann weiter nordostwärts durch den Bosporus ins Schwarze Meer segeln wollte. Doch da an dieser Stelle meist ein scharfer Nordostwind bläst, mussten die Seeleute der Antike in einem windstillen Becken vor Troja auf ruhigeres Wetter warten, vielleicht in der Besik-Bucht. "Der Wind brachte Troja den Reichtum", sagt Manfred Korfmann. Korfmann glaubt, dass die Stadt wegen ihrer günstigen Lage schon früh - im 3. Jahrtausend v. Chr. - vom Seehandel profitierte.



Ein Kaufmann gräbt

Dass Troja damals reich war, hat ein anderer Archäologe bewiesen, wenn auch aus Versehen: Heinrich Schliemann. Um das Jahr 1870 begann der deutsche Kaufmann nach Vorarbeiten des Briten Frank Calvert hier am Hellespont mit systematischen Grabungen. Beide waren aufgrund der Beschreibungen Homers überzeugt, dass nur hier, unter dem 31 Meter hohen, überwachsenen Hügel, die Ruinen des sagenhaften Troja liegen konnten. Schliemann liebte die Dichtungen Homers. Er glaubte an die Ilias wie an ein Geschichtsbuch. Der reiche Deutsche heuerte Arbeiter an, ließ eine 40 Meter breite und 17 Meter tiefe Schneise durch den Hügel graben, bis hinunter auf den Fels.

Wir stehen im Schatten eines Olivenbaumes und schauen in eben diesen Graben hinunter. Wir blicken auf die Mauerreste, auf die Schliemann zuunterst stieß: Fundamente lang gestreckter Häuser aus der frühen Bronzezeit, also der Zeit um 2900 v. Chr. In einigen Häusern waren unter dem Fußboden Kinder bestattet, deren Skelette bei der Grabung zum Vorschein kamen.

Aus heutiger Sicht sind das interessante Funde. Für Schliemann waren sie wertlos, suchte er doch den Palast des Königs Priamos. Als er auf prachtvollen Goldschmuck und Gefäße aus Gold, Silber und Bronze stieß, glaubte er, den "Schatz des Priamos" gefunden zu haben. In Wirklichkeit hielt er jedoch einen Beweis für Trojas Reichtum um 2500 v. Chr. in der Hand. Einer Zeit also, in der in Griechenland noch keine Paläste standen, im anatolischen Troja aber offensichtlich schon luxuriös gelebt wurde und schon weit reichende Handelsbeziehungen bestanden. Schliemann hatte zu tief gegraben.


Ein Haus entsteht neu

Was war passiert? Erst Schliemanns Nachfolger Wilhelm Dörpfeld und Carl W. Blegen fanden die Erklärung: In Troja häuft sich schon seit Jahrtausenden Siedlungsschicht auf Siedlungsschicht. Die zerstörten Teile wurden überbaut, und der Hügel wuchs immer höher.

"Der Grund dafür ist die anatolische Lehmziegelbauweise", erläutert uns Manfred Korfmann. "Der Lehm wird mit Stroh und Häcksel gemischt, die Ziegel von Hand geformt und an der Luft getrocknet. Und wenn solch ein Haus zerstört ist, nimmt man nur Holz und Bruchsteine zur weiteren Verwendung heraus. Die Ziegel lässt man liegen und überbaut den Lehmschutt irgendwann."

Damit sich die Troja-Touristen vorstellen können, wie so ein Haus aussah, lässt der Grabungsleiter auf dem Burgberg eines nachbauen. Wir sehen, wie Arbeiter die Wände verputzen und wie der Neubau rot und fremd und seltsam vollständig in der Trümmerwüste steht, als die sich der Burgberg von Troja heute präsentiert.



Die Trojaner verlieren den Krieg

Generationen von Archäologen haben geklärt, wie die Stadt zu verschiedenen Zeiten ausgesehen hat, und heute hilft, wie Korfmann betont, "auch der Computer zu veranschaulichen, wie es war oder gewesen sein könnte". Zehn große Siedlungsetappen zählt man: von den ältesten bronzezeitlichen Langhäusern (Troja I, ab 2920 v.Chr.) bis zur byzantinischen Epoche im 13./14. Jahrhundert n.Chr. (Troja X). Am elegantesten sah die Stadt wohl während der griechischen Zeit aus (Troja VIII, ab 700 v. Chr.), als ein Nachfolger Alexanders des Großen hier einen Marmortempel errichten ließ; am bombastischsten unter den Römern (Troja IX, ab 85 v. Chr.), die zwei Theater und eine Badeanlage bauten.

Am interessantesten aber ist für Historiker wie für Laien das Troja, das Homer beschreibt. "Sofern die Sage vom Trojanischen Krieg einen historischen Kern hat, kommen dafür nur die Schichten VI und eher noch VIIa in Frage", sagt Korfmann. Vielen Sagen liegen historische Ereignisse zugrunde, und Literaturwissenschaftler halten es heute für möglich, dass auch die Troja-Erzählungen nicht ganz erfunden sind. Troja VI, die Stadt mit den von Homer besungenen "schönen Mauern", wurde den archäologischen Befunden nach um 1300 v.Chr. durch ein Erdbeben zerstört. Die Bewohner der Bauphase VIIa reparierten die Mauern und bauten innen kleine Häuser an sie an. "Offensichtlich rückte man auf der Burg enger zusammen", sagt Korfmann. Zeichen für eine Belagerung? Beweise gibt es nicht. Nur Indizien dafür, dass Troja kurz nach 1200 einen Krieg verlor und in Flammen aufging: Waffenfunde, unbestattete Skelette, Brandschutt.



Ein Pflaster wird abgetragen

Die aktuellen Grabungen des Korfmann-Teams konzentrieren sich auf die Unterstadt von Troja VI und Troja VII und deren nähere Umgebung: ein ziemlich großer Bezirk, rund 230 000 Quadratmeter, am Westhang der Burg. Die Unterstadt ist als archäologisches Neuland für Touristen gesperrt. Wir Besucher können nur Wiesen und Felder erkennen, in die an wenigen Stellen quadratische Gruben eingeschnitten sind. In diesen "Schnitten", wie die Archäologen ihre Erdgruben nennen, stehen junge Männer und hantieren mit Messstäben. Alle tragen Strohhüte, denn inzwischen brennt die Mittagssonne herunter auf das trockene Land.

Wir treten näher. Ralf Becks aus Tübingen, 34, seit 1993 jeden Sommer in Troja, legt direkt unterhalb der Burgmauer zwischen Häuserresten aus der Troja-VII-Periode Scherben, Muscheln und Knochenreste frei. Alle diese Dinge werden später genau untersucht, weil sie Aufschluss über den Alltag der Bewohner geben. In einem der Häuser hat Becks die kleine Statue einer anatolischen Gottheit gefunden.

An einer anderen Stelle - Korfmann vermutet dort ein ehemaliges Handwerkerviertel - trägt Dr. Marcus Müller, ebenfalls ein erfahrener Mitarbeiter des Tübinger Teams, ein Steinpflaster ab. "Der schöne Boden! Warum machen Sie das?", entfährt es mir. "Könnte man den nicht erhalten und restaurieren?" Müller zuckt bedauernd mit den Achseln. Wenn er nach Troja VI hinunter will, muss er die darüber liegende Schicht zerstören. "Archäologie ist leider immer mit Zerstörung verbunden", sagt er. Er versichert uns, dass vor dem Abtragen der Steine alles fotografiert, gezeichnet und vermessen wird. Am nächsten Tag wird er hier tatsächlich etwas Interessantes ans Licht holen: einen Mahlstein und eine Gerätschaft zum Spinnen aus Troja VI, die Hinweise auf die dort ausgeübten handwerklichen Tätigkeiten geben.


Eine Operation geht schief

"Archäologen sind Operateure in einem kulturellen Körper", erklärt Korfmann, bevor er uns in die Mittagspause entlässt. Am Grabungshaus strecken von der Hitze erschöpfte Archäologen im spärlichen Schatten Arme und Beine aus.

Am Nachmittag stellen wir fest, dass das mit den Operateuren manchmal ganz wörtlich zu nehmen ist. Dr. Henrike Kiesewetter, Ärztin und Archäologin aus Tübingen, hat auf ihrem Schreibtisch in einer der Grabungsbaracken einen Schädel liegen. Vor wenigen Tagen wurde er aus einem Grabungsloch direkt vor der Burgmauer geborgen. Er stammt von einem jungen Mann, der um 1700 v. Chr. gelebt hat. Nach Korfmanns Einschätzung ist der Schädel "eine Besonderheit": Ein viereckiges Loch im Knochen zeugt von einer Hirnoperation.

"Diese Operation ging schief", sagt Kiesewetter. "Der Patient hat sie nicht überlebt. Er muss verblutet sein. Der Operateur hat nämlich eine große Arterie durchtrennt." Sie dreht den Schädel um und zeigt uns die im Schädelinneren verlaufende Rille, in der das Blutgefäß eingebettet war. Allerdings ist es auch möglich, dass der Schädel erst kurz nach dem Tod geöffnet wurde.


Eine Höhle wird erkundet

Am nächsten Tag zieht es uns zu einem Ort, von dem Korfmann beim Rundgang mit besonderer Ehrfurcht gesprochen hat: einer Quellhöhle, deren Eingang rund 200 Meter südwestlich der Burg versteckt an einem Abhang liegt. Diese oder eine ganz ähnliche Höhle hat schon Homer in seiner Ilias erwähnt. Homers Landschaftsbeschreibung folgend hatte bereits Schliemann sie gesucht und gefunden.

Ihr Eingang ist von einem Feigenbaum überschattet und mit antiken Waschgruben ausgestattet. Wir folgen Achim Lehmkuhl einige Meter in den feuchten, kühlen Gang hinein. Lehmkuhl, im Hauptberuf Präparator von Fossilien am Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart und in der Freizeit Höhlenforscher, wagt sich noch weiter: Er zwängt sich durch ein Loch, hinter dem ein kaum mannshoher, schmaler Gang unter den Siedlungsresten der trojanischen Unterstadt noch über 100 Meter weit in den Hügel hineinführt. In diesen Gang münden von oben mehrere Brunnenschächte.

Manfred Korfmann hält die Karsthöhle für ein Wasserbergwerk, wie es sie auch in Persien gibt. Möglicherweise ist es aber auch ein heiliger Ort, an dem eine anatolische Gottheit verehrt wurde. "Weiter innen gibt es schöne Stalaktiten", schwärmt Lehmkuhl, bis zu den Knien im Wasser stehend. Aber wir gehen zurück, denn gleich gibt es Abendessen. Es ist 18 Uhr. In Troja endet der Tag früh.

Wir Besucher sitzen noch eine Weile vor der Höhle und schauen zur Burg hinauf, wo die letzten Touristen herumspazieren. Ich male mir aus, wie die Trojaner mit ihren Streitwagen zur Besik-Bucht hinuntergerast sind, um das Schiffslager der Griechen anzugreifen. Heute Abend aber fährt nur Manfred Korfmann mit seinem weißen Geländewagen dort hinunter - zum Schwimmen.

JUDITH RAUCH

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