Judith Rauch schreibt: Reader´s Digest November  2004

Ihre kleinen Leibwächter

Auch wenn Sie sie nicht sehen, die Kämpfer Ihres Immunsystems sind immer für Sie im Einsatz

Um ihren Garten winterfest zu machen, haben Sie das Laub aufgeharkt und das Dorngestrüpp an der Mauer weggeschnitten. Doch am Abend ist einer Ihrer Daumen rot und geschwollen. Und in der Mitte, wo Sie sich an einem Dorn gestochen haben, bildet sich am nächsten Tag ein Eiterpfropf. Gefährlich? Nein, nur der Beweis, dass Ihr Immunsystem funktioniert. Sie sehen es gerade bei der Abwehrschlacht. Durch den Stich in die Haut sind nämlich Bakterien aus der Gartenerde ins Gewebe eingedrungen. Die bekämpft Ihr Körper jetzt, so wie Sie im Garten das Gestrüpp bekämpft haben.

 "Das Immunsystem gehört zu den größten und gewichtigsten Organen des menschlichen Körpers", sagt die Biologin und Medizinautorin Gabriele Kautzmann. Beim Erwachsenen wiegt es rund ein Kilo. Allerdings kann man es nicht im Ganzen auf die Waage legen. "Seine Bestandteile sind überall: im Blut, im Lymphsystem, in den Organen und Geweben und auch in der Haut", erklärt Kautzmann.



Die körpereigene Armee

Wie eine Streitmacht mit zahlreichen Waffengattungen verteidigt uns das Immunsystem gegen Angriffe von Krankheitserregern. Es ist ein hoch kompliziertes System, "noch lange nicht völlig erforscht und verstanden", sagt der Immunologe Ernst-Peter Rieber, Professor an der Technischen Universität Dresden. Aber einige Soldaten der Streitmacht kennt die Wissenschaft recht gut.


Fußsoldaten fressen den Feind

Der russische Zoologe Ilja Metschnikow entdeckte 1883 beim Seestern die Fresszellen. Er beobachtete, dass in der Larve - der Seestern ist als Jungtier durchsichtig - Zellen umherschwammen. Stach er das Tier mit einem Pflanzendorn, sammelten sie sich an der Stichstelle und bauten den Fremdkörper ab. 

Wie man heute weiß, hat auch der Mensch Fresszellen: So genannte Makrophagen patrouillieren durch den Körper und suchen nach Bakterien, verschlingen und verdauen sie. Auf dieselbe Art bekämpfen sie abgestorbene oder von Viren befallene Körperzellen. Die Makrophagen sind die Fußsoldaten des Immunsystems



Kampfstoffe im Einsatz

Werden die Makrophagen mit einer Bakterieninvasion nicht allein fertig, rufen sie mittels Botenstoffen Verstärkung herbei: die Granulozyten. Auch diese gehören zu den Fresszellen, haben aber zusätzlich Bläschen voll chemischer Kampf- und Signalstoffe im Bauch. Diese C-Waffen schütten sie auf dem Schlachtfeld aus. Das steigert die Durchblutung, damit zerstörte Bakterien schneller abtransportiert werden. Wir spüren diese Reaktion als schmerzhafte und hitzige Entzündung. Und wenn die Fresszellenarmee groß genug wird, können wir sie sogar sehen - als Eiter. Doch die Fresszellen bilden nur die vorderste Verteidigungslinie.


Solide Grundausbildung

Bei einem Großangriff von Krankheitserregern werden weitere Zellen aktiv, die Lymphozyten. Sie werden im Knochenmark gebildet, und ein Teil von ihnen entwickelt sich im Thymus weiter. Bei Kindern ist dieses Organ, das hinter dem Brustbein liegt, handtellergroß, bei Erwachsenen wird es kaum noch gebraucht und verkümmert. 

Der Thymus ist das Ausbildungslager für die Spezialtruppen des Immunsystems: Hier lernen viele der T-Lymphozyten, wie sie nach ihrem Ausbildungsort genannt werden, eigenes Gewebe von Fremdstoffen (Antigenen) zu unterscheiden - etwa von Bakterienbruchstücken, Bausteinen von Viren oder Substanzen, die für Würmer charakteristisch sind.


Jede Armee braucht Offiziere

Befehligt werden die Lymphozyten von den so genannten T-Helfer-Zellen, die trotz ihres bescheidenen Namens die Offiziere des Immunsystems sind. Sie warten in ihren Kommandozentralen, den Lymphknoten. Machen sie einen Feind aus, treiben sie die B-Zellen, eine Art Rüstungsbetrieb, zur Arbeit an. Die Oberfläche dieser Zellen ist mit Antikörpern gespickt, die von Zelle zu Zelle verschieden sind und jeweils exakt zu einem Fremdstoff passen. Auf den Befehl der T-Helfer- Zellen hin schwellen die zuständigen B-Zellen an, teilen und vermehren sich. Jede einzelne produziert dabei massenhaft Antikörper.


Kleine Waffen mit großer Wirkung

In den Blutkreislauf entlassen, heften sich die Antikörper an die Bakterien an und markieren sie. Fresszellen eilen in Truppenstärke herbei und dezimieren den Feind. Außerdem aktivieren die Antikörper immunologische Wirksubstanzen, die so genannten Komplementfaktoren - Killer-Eiweiße, die Löcher in die Bakterienwand bohren, noch mehr Fresszellen anlocken und so die Vernichtung der Bakterien beschleunigen. Jetzt, ein paar Stunden nach dem Angriff, ist die Abwehrschlacht auf ihrem Höhepunkt. In ein paar Tagen wird das Immunsystem siegen. Anders gesagt: Ihr Daumen heilt.


Geheimagenten gegen Viren

Schwieriger wird es für Ihre körpereigene Abwehr, wenn Viren angreifen. Denn Viren verstecken sich in menschlichen Körperzellen und benutzen sie für die eigene Vermehrung. Hat ein Virus, etwa bei einem Schnupfen, eine Zelle Ihrer Nasenschleimhaut gekapert, produziert die Schleimhautzelle neben den eigenen Eiweißstoffen (Proteinen) plötzlich eine Menge virenspezifisches Protein. Teile davon erscheinen an der Zelloberfläche und sind als Antigen erkennbar. 

Das ist das Einsatzsignal für die Geheimagenten Ihres Immunsystems: die T-Zellen vom Killertyp. Haben sie das Virus entdeckt, schütten sie einen Botenstoff aus, welcher der infizierten Zelle einen Selbstmordbefehl erteilt. Zusätzlich ätzt die Killerzelle Löcher in die Wand der kranken Schleimhautzelle. Diese wird geopfert, damit sie den Viren nicht weiterhin als Brutstätte dient. Grausam, aber kriegsentscheidend!

Aus Erfahrung lernen

T- und B-Zellen lernen aus Erfahrung; sie bilden sozusagen das "Gedächtnis" unseres Immunsystems. Haben sie einen Angriff einmal zurückgeschlagen, sind sie bei der nächsten Attacke desselben Feindes viel schneller auf ihrem Posten. 

Wenn es sein muss, opfert das Immunsystem auch kranke körpereigene Zellen Diesen Effekt nutzen die Impfstoffe: Bei der Impfung gegen Kinderlähmung werden uns beispielsweise abgeschwächte Polio-Viren injiziert. Sofort bildet unser Körper passende Antikörper. Die machen uns auch gegen die echten Polio-Viren immun.



Wenn das Immunsystem versagt

Wie jede Armee gewinnt auch unser Immunsystem nicht jede Schlacht, und manchmal verliert es sogar den ganzen Krieg: Gegen Krebs zum Beispiel sind seine Waffen unzureichend. Bei Aids muss es kapitulieren, weil das HI-Virus ausgerechnet die körpereigenen Soldaten und Offiziere, insbesondere die T-Helfer-Zellen, angreift.

Und das System macht Fehler. Einer der häufigsten ist die allergische Reaktion: eine Immunantwort auf harmlose Stoffe, etwa Nahrungsmittel, Blütenpollen oder Staub. Es ist, als greife die Armee aus Versehen Zivilisten an! "Zwischen 15 und 25 Prozent der Deutschen sind von Allergien betroffen", sagt Professor Gerhard Metzner, Immunologe von der Universität Leipzig. In Österreich sind die Zahlen ähnlich. Seit hundert Jahren beobachten Mediziner ein Ansteigen der Allergikerzahlen.



Langeweile in der Armee

Bei einem Leben in Wald und Feld, an das die Evolution uns Menschen angepasst hat, sind viele natürliche Feinde zu bekämpfen: neben Bakterien und Viren auch Parasiten, etwa Würmer. Heute ist das anders: "Unsere Umweltbedingungen haben sich geändert. Wir leben zu hygienisch", erklärt Metzner. Unser Immunsystem ist unterbeschäftigt. 

Deshalb lässt es sich beim Allergiker durch die falschen Reize aktivieren - etwa durch Katzenhaare oder Erdbeeren. Arzt und Patient müssen dann gemeinsam nach dem Auslöser fahnden, dem Allergen. Ein seltenes Allergen, zum Beispiel Eiweiß von Krustentieren, kann der Patient einfach meiden. Bei Allergien gegen Allerweltsreize wie Pollen oder Hausstaub hilft nur eine Hyposensibilisierung. "Dabei wird das Allergen in steigenden Dosen gespritzt, damit der Körper sich an den Stoff gewöhnt", erläutert Metzner.



Das Immunsystem stärken

Da die Streitmacht in unserem Körper nicht unbesiegbar ist, sucht die Medizin seit langem nach Wegen, das Immunsystem besser zu unterstützen. Schutzimpfungen haben sich dabei bewährt: Kinder sollten laut Empfehlung der Ständigen Impfkommission der Bundesregierung ab dem dritten Monat gegen Polio, Diphtherie, Keuchhusten, Wundstarrkrampf und Hepatitis B immunisiert werden sowie gegen das Hib-Virus (Haemophilus influenzae Typ B), das Lungen- und Hirnhautentzündungen bewirkt. Impfungen gegen die Krankheiten Masern, Mumps, Windpocken und Röteln kommen ab dem zwölften Monat hinzu.

Erwachsenen werden regelmäßige Auffrischungsimpfungen gegen Diphtherie und Tetanus (alle zehn Jahre) empfohlen. Etwa vom 60. Lebensjahr an sollte man sich alle sechs Jahre gegen Lungenentzündung impfen lassen. Gegen Grippe empfiehlt sich eine jährliche Impfung. 

Andere wirksame Mittel, die das Immunsystem unterstützen, sind ohne Arztbesuch und kostenlos zu haben: genügend Schlaf, maßvolle sportliche Betätigung und ein ausgeglichenes Seelenleben. Auch die gute alte Kneippkur, also die Abhärtung des Körpers mit kaltem Wasser, gilt als effektives Training für die körpereigene Streitmacht. Nachgewiesen ist, dass sich die Zahl bestimmter Antikörper und Lymphozyten nach dem Kneippen erhöht.

Laut Professor Jürgen Schrezenmeir von der Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel in Kiel ist auch an den angeblich die Abwehrkräfte stärkenden Jogurts mit den so genannten Probiotika etwas dran. "Einige Stämme helfen bei Durchfall, indem sie die natürliche Darmflora ins Lot bringen und das Immunsystem stimulieren", sagt er. "Sie regen zum Beispiel die Bildung von T-Zellen an." Nach einer Untersuchung seines Labors an 500 Senioren kann ein Cocktail probiotischer Bakterien Dauer und Schwere von Erkältungen mindern.

"Bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa wird die Schubfrequenz durch ein Probiotikum verlangsamt", berichtet Professor Jan Buer von der GBF, der zu diesen autoimmun bedingten chronischen Entzündungen der Darmschleimhaut forscht. 

Weniger klar ist die Wirkung anderer Präparate, die gern zur Immunstimulation genommen werden: etwa Zink oder Echinacin, der Wirkstoff des Roten Sonnenhuts. Dass sie helfen, ist wissenschaftlich schwer zu beweisen. "Es besteht aber auch kein Risiko, wenn man diese Präparate nimmt", erklärt Professor Rieber aus Dresden. "Medizin ist in weiten Teilen eine Erfahrungswissenschaft; da kann man, wenn es um die Stärkung der Immunabwehr geht, ein wenig herumprobieren, was einem selbst am besten hilft."


JUDITH RAUCH



Unterstützen Sie Ihr Immunsystem

Mit dieser Checkliste können Sie überprüfen, ob Sie etwas für Ihre körpereigene Abwehr tun

1. Ist Ihr Impfschutz vollständig? Denken Sie auch an die Auffrischungsimpfungen! 

2. Pflegen Sie einen gesunden Lebensstil? Dazu gehören genug Schlaf, sportliche Betätigung, eine vernünftige Ernährung und ein ausgeglichenes Seelenleben. 

3. Sind Sie abgehärtet? Die gute alte Kneippkur mit Kaltwasser gilt als effektives Training der Abwehrkräfte.

4. Essen Sie probiotische Jogurts? Die darin enthaltenen Mikroorganismen stimulieren sehr wahrscheinlich das Immunsystem.


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