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Gendächtnis:
Wo
versteckt sich das Gedächtnis?
Hirnforscher finden heraus, wie der
Mensch sich erinnert: Mit neuen Verfahren enthüllen sie, dass dieser
Vorgang komplizierter ist, als bisher angenommen.
Die Studenten erzählten frisch drauflos: "Meine erste Flugreise ging nach London. Meine Freundin war dabei, und
meine Eltern wussten nichts davon." Oder: "Ich bin mit zwei Freunden im
Auto nach Amsterdam gefahren. Dort haben wir Haschisch gekauft.
Dummerweise hat uns bei der Einreise der deutsche Zoll gefilzt und das
Zeug gefunden."
Die Geschichten klangen abenteuerlich, aber glaubwürdig. Und sie waren
mit vielen Details ausgeschmückt. Aber: Nur 24 der 48 Storys waren tatsächlich
passiert. Jeder Student hatte drei wahre und drei ausgedachte zum Besten
gegeben.
Einige Minuten später sollten die Teilnehmer des Versuchs sich erneut an
ihre Geschichten erinnern. Diesmal lagen sie auf einer Liege, und ihr Kopf
befand sich im Inneren einer Spezialkamera. Diese maß, an welchen Stellen
die Gehirne beim Erinnern besonders viel Energie umsetzten. Ein Computer
wandelte die Messdaten in eine Reihe farbiger Bilder um. Der Sinn des
Experiments: Die Psychologen aus dem Team von Professor Hans Joachim
Markowitsch an der Universität Bielefeld wollten wissen, ob man im Gehirn
eines Menschen Lüge und Wahrheit erkennen kann.
Zunächst sahen die Bilder bei den wahren und bei den falschen Geschichten
ziemlich ähnlich aus: Bunte Flecke waren über das Großhirn verstreut
– ein Zeichen dafür, dass nicht nur eines, sondern viele Hirnzentren am
Erinnerungsprozess beteiligt sind. Spannend wurde es allerdings, als
Markowitsch und seine Kollegen einen mathematischen Trick anwandten: Sie
zogen die Hirndaten, die bei den Lügengeschichten erhoben worden waren,
von denen ab, die sie bei den wahren Geschichten gemessen hatten, und
umgekehrt. Nun wurden feine Unterschiede sichtbar.
Wenn die Studenten an ein tatsächliches Erlebnis dachten, etwa an ihre
erste Flugreise, waren ihre Gefühle beteiligt: Das hierauf spezialisierte
Gebiet tief innen im Kopf, der Mandelkern, war aktiv. Wenn sich eine der
Versuchspersonen aber an eine erfundene Episode erinnerte, blieb der
Mandelkern stumm. Stattdessen leuchtete ein Fleck am Hinterkopf auf. Diese
Stelle, den so genannten Präcuneus, bringen Wissenschaftler mit "visuellen
Vorstellungen" in Verbindung – mit Szenen, die man nicht tatsächlich
sieht, sondern sich ausmalt.
"Damit war klar, dass wir eine neue Art Lügendetektor gefunden hatten",
sagt Hans Joachim Markowitsch stolz. "Ein Lügendetektor, der direkt ins
Hirn blickt und nicht nur indirekt die Erregung einer Person misst." Herkömmliche
Lügendetektoren können nämlich nicht mehr, als Schweißausbrüche auf
der Haut oder den Pulsschlag zu registrieren.
Die Bielefelder Versuche sprachen sich herum. So dauerte es nicht lange,
bis ein Richter eine Frau vorbeischickte, die der Professor auf ihre
Glaubwürdigkeit prüfen sollte. "Sie war die einzige Zeugin bei einem
Mord gewesen, der schon länger zurück lag", erzählt Markowitsch, 54,
im Gespräch mit P.M. "Der Richter wollte wissen, ob sie sich tatsächlich
an den Täter erinnerte oder einen Falschen beschuldigte." Die Hirnkamera
half, die Zweifel zu zerstreuen: Die Frau erinnerte sich an Tat und Täter,
und sie war aufgeregt. Art, Ausmaß und Verteilung der aktiven
Hirnbereiche zeigten eindeutig, dass hier eine echte Erinnerung und keine
Fantasie vorlag.
Ohne unser Gedächtnis würden uns nicht nur simple Erinnerungen fehlen,
sondern auch das, was unser ganzes Leben ausmacht. "Das Gedächtnis
verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen. Und wie unser
Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der
Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses
unser Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt." Das
schrieb der Hirnforscher Ewald Hering im Jahr 1870.
Moderne Gedächtnisforscher haben dem nichts hinzuzufügen. Aber anders
als ihr Kollege aus dem vorletzten Jahrhundert verstehen sie heute immer
besser, wie unser Gedächtnis funktioniert. Dass seine Erforschung zurzeit
rasante Fortschritte macht, liegt an den raffinierten bildgebenden
Verfahren, die heute zur Verfügung stehen. "Wir haben jetzt das
Handwerkszeug, um das Gehirn im Detail zu untersuchen", freut sich der
Bonner Neurologe Professor Christian E. Elger, der ebenfalls Gedächtnisphänomene
erforscht.
Neben der im beschriebenen Versuch verwendeten PET-Methode ist das vor
allem die funktionelle Kernspintomografie. (Anders als die für
medizinische Diagnosen eingesetzte strukturelle Kernspintomografie überprüft
sie eine Funktion.) Dabei werden die Versuchspersonen in eine enge Röhre
geschoben, und die Durchblutung ihres Gehirns wird mit Magneten gemessen.
Wissenschaftler können live am Bildschirm mitverfolgen, welche Hirnteile
jemand benutzt, während er zum Beispiel Vokabeln lernt.
Ihre Vorgänger im 19. und 20. Jahrhundert hatten es nicht so leicht.
Meist untersuchten sie Patienten, bei denen durch Krankheiten,
Kriegsverletzungen oder missglückte Operationen bestimmte
Gehirnfunktionen ausgefallen waren, zum Beispiel die Fähigkeit, Gesichter
wiederzuerkennen. Aus dem Ort der Schädigung zogen sie ihre Schlüsse.
Einer dieser Patienten, der Amerikaner H. M., erlangte traurige Berühmtheit.
Seit seiner Kindheit litt er an heftigen epileptischen Krampfanfällen. Im
Jahr 1953, da war er 27, entfernten Chirurgen deshalb aus seinem Gehirn
große Teile des Schläfenlappens, von dem die Anfälle ausgegangen waren.
Von denen war er fortan geheilt – aber etwas Schreckliches war
stattdessen passiert: H. M. hatte sein Gedächtnis verloren.
Genauer gesagt, ist es das Langzeitgedächtnis. Der arme Mann, heute 77,
kann sich neue Fakten und Ereignisse nur noch für Minuten oder Stunden
merken. Abends weiß er nicht mehr, was er morgens zum Frühstück
gegessen hat. Immer wieder liest er die gleichen Zeitschriften, denn das
Gelesene vergisst er sofort. Und Prominente erkennt er nur wieder, wenn
sie schon vor 1953 berühmt waren. Dank H. M. wissen wir heute, wie
wichtig der innere Teil des Schläfenlappens für das Einspeichern
bewusster Langzeiterinnerungen ist. Doch auch benachbarte Regionen in
diesem Teil des Gehirns (dem Limbischen System) haben ihre speziellen
Aufgaben.
Der Hippocampus zum Beispiel muss mitspielen. Dr. Jürgen Fell, ein
Mitarbeiter von Christian Elger, zeigte 2001 in einem spektakulären
Experiment, dass Hippocampus und Schläfenlappen ein paar tausendstel
Sekunden lang im Gleichtakt aktiv sein müssen – nur dann wird ein
bestimmtes Wort vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis überführt.
Schwingen die beiden Teile nicht synchron, wird das Wort sofort vergessen.
Fell und seine Bonner Kollegen maßen die elektrische Aktivität tief im
Gehirn mit Hilfe dünner elektrischer Messfühler (Elektroden). Ihre
Versuchspersonen waren Epilepsie-Patienten. An der Bonner Universitätsklinik
hatte man ihnen die Elektroden in den Kopf gepiekst, um genauer zu messen,
wo die Anfälle herkommen.
Schläfenlappen, Hippocampus und der für Gefühle zuständige Mandelkern
sind wohl die wichtigsten Zentren für das Gedächtnis. Hier, in der Mitte
des Hirns, werden die Erinnerungen "wie durch einen Flaschenhals"
(Markowitsch) hindurchgeleitet, um auf Dauer gespeichert zu werden. Doch
auch weitere Bereiche sind an der Einspeisung von Erinnerungen beteiligt:
• Der taubeneigroße Thalamus; sein Kern kann bei Alkoholkranken
degenerieren.
• Der weiter vorn gelegene kleine Basalkern; er gibt einen Signalstoff
an die Nerven ab und funktioniert bei Alzheimerkranken nicht mehr.
• Das Stirnhirn. Hier werden Erinnerungen räumlich und zeitlich
eingeordnet.
"Im Unterschied zu einer Schädigung des Hippocampus", so die
Neurobiologin Lise Eliot aus Chicago, können sich Patienten mit
einem geschädigten Stirnlappen "durchaus an Ereignisse, Fakten,
Menschen und so weiter erinnern, jedoch entgeht ihnen komplett, wann
oder wo etwas passiert ist". Psychologen sprechen in so einem Fall von
einem gestörten "Quellengedächtnis". Diese Form der
Gedächtnisleistung reift bei kleinen Kindern spät heran
– und ist bei alten Leuten eine der ersten Gedächtnisformen,
die verfällt.
All diese Befunde zeigen, dass das menschliche Gedächtnis keineswegs
einfach konstruiert ist. "Früher hat man es nur nach der Zeit der
Speicherung unterteilt, in Kurz- und Langzeitgedächtnis", sagt Hans J.
Markowitsch. "Heute unterteilt man es auch nach dem Inhalt – und zwar
in fünf unabhängige Systeme". Sie haben sich während der Evolution im
Laufe von Jahrmillionen allmählich entwickelt. Beim Menschen sind sie
alle vorhanden, aber nicht von vornherein. Lise Eliot, nicht nur
Professorin für Neurobiologie, sondern auch Mutter von drei Kindern, hat
ein Buch geschrieben, in dem sie die Entwicklung des kindlichen Gehirns
beschreibt.
Gedächtnisstufe 1 ist die "Bahnung". Schon in der 23.
Schwangerschaftswoche kann sich ein werdendes Baby an Geräusche gewöhnen.
Hört es den Lärm zum ersten Mal, erschrickt es, beim zweiten Mal
weniger, beim dritten Mal gar nicht mehr. Wenn die Mutter sich stets bei
einer bestimmten Musik entspannt, zum Beispiel bei Beethovens
Mondscheinsonate, "merkt" sich das Kind die Melodie und fängt schon an,
im Bauch zu hüpfen, wenn die ersten Töne erklingen.
Gedächtnisstufe 2 ist die "Automatisierung", nämlich von
Bewegungen und Fertigkeiten. Tretend und boxend übt das Ungeborene
einfache Bewegungsmuster ein; es erreicht damit ein Stadium der Gedächtnisentwicklung,
über das manche Würmer und Schnecken nie hinauskommen. Fachleute
sprechen auch vom "prozeduralen Gedächtnis". Es funktioniert unbewusst.
Im späteren Leben wird der Mensch es dazu benutzen, um Klavier zu spielen
oder Auto zu fahren. Anders als Würmer und Schnecken hat er dafür zwei
Extra-Gehirnteile, die so genannten Basalganglien und das Kleinhirn. Das
prozedurale Gedächtnis macht schnell Fortschritte: Im Alter von zwei
Monaten lernen Babys, mit einer am Fuß angebundenen Schnur ein Mobile zum
Schaukeln zu bringen – und sich die Technik zwei, drei Tage lang zu
merken. Später lernen sie greifen, krabbeln, aufstehen und schließlich
laufen.
Gedächtnisstufe 3 im Baukasten der Evolution ist
das "perzeptuelle Gedächtnis". Es bildet sich nach der Geburt,
wenn Stimme, Gesicht und Geruch der Mutter dem Säugling rasch
vertraut werden. Doch gilt das noch nicht als eigentliche
Gedächtnisleistung, denn es könnte auch eine Verstärkung
von Reflexen sein: Wie beim berühmten Hund des Psychologen Iwan
Pawlow, der beim Klang einer Glocke "Futter" assoziiert und zu sabbern
anfängt, bringt das Baby die Mutter mit Nahrung, Wärme und
angenehmen Gefühlen in Verbindung. Erstaunlicher ist da schon,
dass nur wenige Tage alte Neugeborene auch "neutrale" Reize deuten. Sie
können zum Beispiel Strichzeichnungen von Gesichtern oder
vorgelesene Wörter in "neu" oder "bekannt" unterscheiden. Auf ein
unbekanntes Gesicht blicken sie länger, bei einem neuen Wort
lauschen sie interessierter als bei "alten Bekannten".
Gedächtnisstufe 4, der Beginn des bewussten Welt- und
Faktenwissens, entsteht am Ende des ersten Lebensjahres. Jetzt finden
Kinder ein Spielzeug wieder, das die Erwachsenen versteckt haben. Noch ist
dieses Gedächtnis-System ein wenig unzuverlässig und kurzatmig. Doch das
ändert sich, wenn das Kind zu sprechen anfängt. Mit dem Erwerb der
Sprache werden Kinder "zu regelrechten Lernmaschinen", wie Markowitsch
sagt. Sie prägen sich alle möglichen Einzelheiten und Begriffe ein,
gewinnen im Memory-Spiel gegen die Eltern, verblüffen sie manchmal sogar
mit Erinnerungen an Ereignisse, die in Zeiten zurück reichen, als sie
noch nicht sprechen konnten. Doch auf die Dauer speichern können sie
diese Kindheitserlebnisse nicht. Denn noch haben sie das fünfte und höchste
Gedächtnisstadium nicht erreicht:
Gedächtnisstufe 5 ist das "episodische" oder "autobiografische"
Gedächtnis. Erst dieses ermöglicht es uns, wichtige Erlebnisse so
detailliert und im Zusammenhang mit Zeit, Raum und emotionaler Stimmung
festzuhalten, dass wir sie jederzeit nacherleben können – wie die
Studenten in Markowitschs Lügendetektor-Experiment. "Das episodische Gedächtnis
ist wahrscheinlich nur dem Menschen eigen", meint der 75-jährige
kanadische Gedächtnispsychologe Endel Tulving. "Es erlaubt eine
gedankliche Zeitreise durch die subjektive Zeit, von der Gegenwart in die
Vergangenheit." Kinder erreichen diese Gedächtnisstufe im Vorschulalter,
also mit vier, fünf Jahren.
Das zeigt eine interessante Untersuchung aus den USA: In einem
Kindergarten hatte es gebrannt, zum Glück wurde niemand verletzt. Sieben
Jahre später befragten Forscher aus dem Team des Kinderpsychologen David
B. Pillemer die groß gewordenen Kinder, an was sie sich noch erinnern
konnten. Während diejenigen, die beim Brand erst dreieinhalb Jahre alt waren, nur
ganz lapidar "da war ein Feuer" sagten, wussten die älteren ganze
Geschichten zu erzählen: Popcorn hatte Feuer gefangen, die Kinder wurden
auf einen Spielplatz evakuiert, "und ich war als Letzter draußen, weil
ich noch etwas fertig machen musste."
Wie das Beispiel zeigt, gehört eine Menge dazu, bevor der Mensch
autobiografische Erinnerungen dauerhaft speichern kann: Zunächst
einmal muss das Quellengedächtnis funktionieren, der Rahmen
für Raum und Zeit. "Kinder müssen aber auch lernen, ihr
Selbst zu erkennen, sich gegenüber anderen in Beziehung und sich
in andere hinein zu versetzen", erklärt Professor
Markowitsch.
Mit bildgebenden Verfahren haben er und seine Kollegen auch bestätigt,
dass es bei den höheren Gedächtnisformen eine interessante Asymmetrie
gibt: In der linken Großhirnhälfte legen wir eher neutrale Fakten und
Allgemeinwissen ab.
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Erinnerungen werden dagegen in der rechten Hälfte gespeichert, von der
aus ein dicker Nervenstrang in Richtung des Mandelkerns zieht.
Später
kann der Mensch diese Episoden dann jederzeit wieder hervorkramen, weiter
erzählen, in Erinnerungen schwelgen und sie neu abspeichern. Durch
Wiederholung werden sie tiefer eingebrannt, manchmal auch ein wenig
vereinfacht, aufgebauscht oder geschönt. Selbst im hohen Alter, wenn es
mit der Merkfähigkeit für neue Fakten und Ereignisse bergab geht,
erinnert sich dann mancher Greis gern an die wirklich wichtigen Stunden
seines Lebens: den ersten Schultag, den ersten Kuss oder den "ersten Flug
mit der Freundin nach London".
JUDITH RAUCH
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