Judith Rauch schreibt: P.M. Perspektive, 3/2003 (August 2003)

Gendächtnis:

Wo versteckt sich das Gedächtnis?

Hirnforscher finden heraus, wie der Mensch sich erinnert: Mit neuen Verfahren enthüllen sie, dass dieser Vorgang komplizierter ist, als bisher angenommen.

Die Studenten erzählten frisch drauflos: "Meine erste Flugreise ging nach London. Meine Freundin war dabei, und meine Eltern wussten nichts davon." Oder: "Ich bin mit zwei Freunden im Auto nach Amsterdam gefahren. Dort haben wir Haschisch gekauft. Dummerweise hat uns bei der Einreise der deutsche Zoll gefilzt und das Zeug gefunden."

Die Geschichten klangen abenteuerlich, aber glaubwürdig. Und sie waren mit vielen Details ausgeschmückt. Aber: Nur 24 der 48 Storys waren tatsächlich passiert. Jeder Student hatte drei wahre und drei ausgedachte zum Besten gegeben.

Einige Minuten später sollten die Teilnehmer des Versuchs sich erneut an ihre Geschichten erinnern. Diesmal lagen sie auf einer Liege, und ihr Kopf befand sich im Inneren einer Spezialkamera. Diese maß, an welchen Stellen die Gehirne beim Erinnern besonders viel Energie umsetzten. Ein Computer wandelte die Messdaten in eine Reihe farbiger Bilder um. Der Sinn des Experiments: Die Psychologen aus dem Team von Professor Hans Joachim Markowitsch an der Universität Bielefeld wollten wissen, ob man im Gehirn eines Menschen Lüge und Wahrheit erkennen kann.

Zunächst sahen die Bilder bei den wahren und bei den falschen Geschichten ziemlich ähnlich aus: Bunte Flecke waren über das Großhirn verstreut – ein Zeichen dafür, dass nicht nur eines, sondern viele Hirnzentren am Erinnerungsprozess beteiligt sind. Spannend wurde es allerdings, als Markowitsch und seine Kollegen einen mathematischen Trick anwandten: Sie zogen die Hirndaten, die bei den Lügengeschichten erhoben worden waren, von denen ab, die sie bei den wahren Geschichten gemessen hatten, und umgekehrt. Nun wurden feine Unterschiede sichtbar.

Wenn die Studenten an ein tatsächliches Erlebnis dachten, etwa an ihre erste Flugreise, waren ihre Gefühle beteiligt: Das hierauf spezialisierte Gebiet tief innen im Kopf, der Mandelkern, war aktiv. Wenn sich eine der Versuchspersonen aber an eine erfundene Episode erinnerte, blieb der Mandelkern stumm. Stattdessen leuchtete ein Fleck am Hinterkopf auf. Diese Stelle, den so genannten Präcuneus, bringen Wissenschaftler mit "visuellen Vorstellungen" in Verbindung – mit Szenen, die man nicht tatsächlich sieht, sondern sich ausmalt.

"Damit war klar, dass wir eine neue Art Lügendetektor gefunden hatten", sagt Hans Joachim Markowitsch stolz. "Ein Lügendetektor, der direkt ins Hirn blickt und nicht nur indirekt die Erregung einer Person misst." Herkömmliche Lügendetektoren können nämlich nicht mehr, als Schweißausbrüche auf der Haut oder den Pulsschlag zu registrieren.

Die Bielefelder Versuche sprachen sich herum. So dauerte es nicht lange, bis ein Richter eine Frau vorbeischickte, die der Professor auf ihre Glaubwürdigkeit prüfen sollte. "Sie war die einzige Zeugin bei einem Mord gewesen, der schon länger zurück lag", erzählt Markowitsch, 54, im Gespräch mit P.M. "Der Richter wollte wissen, ob sie sich tatsächlich an den Täter erinnerte oder einen Falschen beschuldigte." Die Hirnkamera half, die Zweifel zu zerstreuen: Die Frau erinnerte sich an Tat und Täter, und sie war aufgeregt. Art, Ausmaß und Verteilung der aktiven Hirnbereiche zeigten eindeutig, dass hier eine echte Erinnerung und keine Fantasie vorlag.

Ohne unser Gedächtnis würden uns nicht nur simple Erinnerungen fehlen, sondern auch das, was unser ganzes Leben ausmacht. "Das Gedächtnis verbindet die zahllosen Einzelphänomene zu einem Ganzen. Und wie unser Leib in unzählige Atome zerstieben müsste, wenn nicht die Attraktion der Materie ihn zusammenhielte, so zerfiele ohne die bindende Macht des Gedächtnisses unser Bewusstsein in so viele Splitter, als es Augenblicke zählt." Das schrieb der Hirnforscher Ewald Hering im Jahr 1870.

Moderne Gedächtnisforscher haben dem nichts hinzuzufügen. Aber anders als ihr Kollege aus dem vorletzten Jahrhundert verstehen sie heute immer besser, wie unser Gedächtnis funktioniert. Dass seine Erforschung zurzeit rasante Fortschritte macht, liegt an den raffinierten bildgebenden Verfahren, die heute zur Verfügung stehen. "Wir haben jetzt das Handwerkszeug, um das Gehirn im Detail zu untersuchen", freut sich der Bonner Neurologe Professor Christian E. Elger, der ebenfalls Gedächtnisphänomene erforscht.

Neben der im beschriebenen Versuch verwendeten PET-Methode ist das vor allem die funktionelle Kernspintomografie. (Anders als die für medizinische Diagnosen eingesetzte strukturelle Kernspintomografie überprüft sie eine Funktion.) Dabei werden die Versuchspersonen in eine enge Röhre geschoben, und die Durchblutung ihres Gehirns wird mit Magneten gemessen. Wissenschaftler können live am Bildschirm mitverfolgen, welche Hirnteile jemand benutzt, während er zum Beispiel Vokabeln lernt.

Ihre Vorgänger im 19. und 20. Jahrhundert hatten es nicht so leicht. Meist untersuchten sie Patienten, bei denen durch Krankheiten, Kriegsverletzungen oder missglückte Operationen bestimmte Gehirnfunktionen ausgefallen waren, zum Beispiel die Fähigkeit, Gesichter wiederzuerkennen. Aus dem Ort der Schädigung zogen sie ihre Schlüsse.

Einer dieser Patienten, der Amerikaner H. M., erlangte traurige Berühmtheit. Seit seiner Kindheit litt er an heftigen epileptischen Krampfanfällen. Im Jahr 1953, da war er 27, entfernten Chirurgen deshalb aus seinem Gehirn große Teile des Schläfenlappens, von dem die Anfälle ausgegangen waren. Von denen war er fortan geheilt – aber etwas Schreckliches war stattdessen passiert: H. M. hatte sein Gedächtnis verloren. 

Genauer gesagt, ist es das Langzeitgedächtnis. Der arme Mann, heute 77, kann sich neue Fakten und Ereignisse nur noch für Minuten oder Stunden merken. Abends weiß er nicht mehr, was er morgens zum Frühstück gegessen hat. Immer wieder liest er die gleichen Zeitschriften, denn das Gelesene vergisst er sofort. Und Prominente erkennt er nur wieder, wenn sie schon vor 1953 berühmt waren. Dank H. M. wissen wir heute, wie wichtig der innere Teil des Schläfenlappens für das Einspeichern bewusster Langzeiterinnerungen ist. Doch auch benachbarte Regionen in diesem Teil des Gehirns (dem Limbischen System) haben ihre speziellen Aufgaben.

Der Hippocampus zum Beispiel muss mitspielen. Dr. Jürgen Fell, ein Mitarbeiter von Christian Elger, zeigte 2001 in einem spektakulären Experiment, dass Hippocampus und Schläfenlappen ein paar tausendstel Sekunden lang im Gleichtakt aktiv sein müssen – nur dann wird ein bestimmtes Wort vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis überführt. Schwingen die beiden Teile nicht synchron, wird das Wort sofort vergessen. 

Fell und seine Bonner Kollegen maßen die elektrische Aktivität tief im Gehirn mit Hilfe dünner elektrischer Messfühler (Elektroden). Ihre Versuchspersonen waren Epilepsie-Patienten. An der Bonner Universitätsklinik hatte man ihnen die Elektroden in den Kopf gepiekst, um genauer zu messen, wo die Anfälle herkommen.

Schläfenlappen, Hippocampus und der für Gefühle zuständige Mandelkern sind wohl die wichtigsten Zentren für das Gedächtnis. Hier, in der Mitte des Hirns, werden die Erinnerungen "wie durch einen Flaschenhals" (Markowitsch) hindurchgeleitet, um auf Dauer gespeichert zu werden. Doch auch weitere Bereiche sind an der Einspeisung von Erinnerungen beteiligt:

• Der taubeneigroße Thalamus; sein Kern kann bei Alkoholkranken degenerieren.
• Der weiter vorn gelegene kleine Basalkern; er gibt einen Signalstoff an die Nerven ab und funktioniert bei Alzheimerkranken nicht mehr.
• Das Stirnhirn. Hier werden Erinnerungen räumlich und zeitlich eingeordnet.

"Im Unterschied zu einer Schädigung des Hippocampus", so die Neurobiologin Lise Eliot aus Chicago, können sich Patienten mit einem geschädigten Stirnlappen "durchaus an Ereignisse, Fakten, Menschen und so weiter erinnern, jedoch entgeht ihnen komplett, wann oder wo etwas passiert ist". Psychologen sprechen in so einem Fall von einem gestörten "Quellengedächtnis". Diese Form der Gedächtnisleistung reift bei kleinen Kindern spät heran – und ist bei alten Leuten eine der ersten Gedächtnisformen, die verfällt.

All diese Befunde zeigen, dass das menschliche Gedächtnis keineswegs einfach konstruiert ist. "Früher hat man es nur nach der Zeit der Speicherung unterteilt, in Kurz- und Langzeitgedächtnis", sagt Hans J. Markowitsch. "Heute unterteilt man es auch nach dem Inhalt – und zwar in fünf unabhängige Systeme". Sie haben sich während der Evolution im Laufe von Jahrmillionen allmählich entwickelt. Beim Menschen sind sie alle vorhanden, aber nicht von vornherein. Lise Eliot, nicht nur Professorin für Neurobiologie, sondern auch Mutter von drei Kindern, hat ein Buch geschrieben, in dem sie die Entwicklung des kindlichen Gehirns beschreibt.

Gedächtnisstufe 1 ist die "Bahnung". Schon in der 23. Schwangerschaftswoche kann sich ein werdendes Baby an Geräusche gewöhnen. Hört es den Lärm zum ersten Mal, erschrickt es, beim zweiten Mal weniger, beim dritten Mal gar nicht mehr. Wenn die Mutter sich stets bei einer bestimmten Musik entspannt, zum Beispiel bei Beethovens Mondscheinsonate, "merkt" sich das Kind die Melodie und fängt schon an, im Bauch zu hüpfen, wenn die ersten Töne erklingen.

Gedächtnisstufe 2 ist die "Automatisierung", nämlich von Bewegungen und Fertigkeiten. Tretend und boxend übt das Ungeborene einfache Bewegungsmuster ein; es erreicht damit ein Stadium der Gedächtnisentwicklung, über das manche Würmer und Schnecken nie hinauskommen. Fachleute sprechen auch vom "prozeduralen Gedächtnis". Es funktioniert unbewusst. Im späteren Leben wird der Mensch es dazu benutzen, um Klavier zu spielen oder Auto zu fahren. Anders als Würmer und Schnecken hat er dafür zwei Extra-Gehirnteile, die so genannten Basalganglien und das Kleinhirn. Das prozedurale Gedächtnis macht schnell Fortschritte: Im Alter von zwei Monaten lernen Babys, mit einer am Fuß angebundenen Schnur ein Mobile zum Schaukeln zu bringen – und sich die Technik zwei, drei Tage lang zu merken. Später lernen sie greifen, krabbeln, aufstehen und schließlich laufen.

Gedächtnisstufe 3 im Baukasten der Evolution ist das "perzeptuelle Gedächtnis". Es bildet sich nach der Geburt, wenn Stimme, Gesicht und Geruch der Mutter dem Säugling rasch vertraut werden. Doch gilt das noch nicht als eigentliche Gedächtnisleistung, denn es könnte auch eine Verstärkung von Reflexen sein: Wie beim berühmten Hund des Psychologen Iwan Pawlow, der beim Klang einer Glocke "Futter" assoziiert und zu sabbern anfängt, bringt das Baby die Mutter mit Nahrung, Wärme und angenehmen Gefühlen in Verbindung. Erstaunlicher ist da schon, dass nur wenige Tage alte Neugeborene auch "neutrale" Reize deuten. Sie können zum Beispiel Strichzeichnungen von Gesichtern oder vorgelesene Wörter in "neu" oder "bekannt" unterscheiden. Auf ein unbekanntes Gesicht blicken sie länger, bei einem neuen Wort lauschen sie interessierter als bei "alten Bekannten".

Gedächtnisstufe 4, der Beginn des bewussten Welt- und Faktenwissens, entsteht am Ende des ersten Lebensjahres. Jetzt finden Kinder ein Spielzeug wieder, das die Erwachsenen versteckt haben. Noch ist dieses Gedächtnis-System ein wenig unzuverlässig und kurzatmig. Doch das ändert sich, wenn das Kind zu sprechen anfängt. Mit dem Erwerb der Sprache werden Kinder "zu regelrechten Lernmaschinen", wie Markowitsch sagt. Sie prägen sich alle möglichen Einzelheiten und Begriffe ein, gewinnen im Memory-Spiel gegen die Eltern, verblüffen sie manchmal sogar mit Erinnerungen an Ereignisse, die in Zeiten zurück reichen, als sie noch nicht sprechen konnten. Doch auf die Dauer speichern können sie diese Kindheitserlebnisse nicht. Denn noch haben sie das fünfte und höchste Gedächtnisstadium nicht erreicht:

Gedächtnisstufe 5 ist das "episodische" oder "autobiografische" Gedächtnis. Erst dieses ermöglicht es uns, wichtige Erlebnisse so detailliert und im Zusammenhang mit Zeit, Raum und emotionaler Stimmung festzuhalten, dass wir sie jederzeit nacherleben können – wie die Studenten in Markowitschs Lügendetektor-Experiment. "Das episodische Gedächtnis ist wahrscheinlich nur dem Menschen eigen", meint der 75-jährige kanadische Gedächtnispsychologe Endel Tulving. "Es erlaubt eine gedankliche Zeitreise durch die subjektive Zeit, von der Gegenwart in die Vergangenheit." Kinder erreichen diese Gedächtnisstufe im Vorschulalter, also mit vier, fünf Jahren.

Das zeigt eine interessante Untersuchung aus den USA: In einem Kindergarten hatte es gebrannt, zum Glück wurde niemand verletzt. Sieben Jahre später befragten Forscher aus dem Team des Kinderpsychologen David B. Pillemer die groß gewordenen Kinder, an was sie sich noch erinnern konnten. Während diejenigen, die beim Brand erst dreieinhalb Jahre alt waren, nur ganz lapidar "da war ein Feuer" sagten, wussten die älteren ganze Geschichten zu erzählen: Popcorn hatte Feuer gefangen, die Kinder wurden auf einen Spielplatz evakuiert, "und ich war als Letzter draußen, weil ich noch etwas fertig machen musste."

Wie das Beispiel zeigt, gehört eine Menge dazu, bevor der Mensch autobiografische Erinnerungen dauerhaft speichern kann: Zunächst einmal muss das Quellengedächtnis funktionieren, der Rahmen für Raum und Zeit. "Kinder müssen aber auch lernen, ihr Selbst zu erkennen, sich gegenüber anderen in Beziehung und sich in andere hinein zu versetzen", erklärt Professor Markowitsch. 

Mit bildgebenden Verfahren haben er und seine Kollegen auch bestätigt, dass es bei den höheren Gedächtnisformen eine interessante Asymmetrie gibt: In der linken Großhirnhälfte legen wir eher neutrale Fakten und Allgemeinwissen ab. < und> Erinnerungen werden dagegen in der rechten Hälfte gespeichert, von der aus ein dicker Nervenstrang in Richtung des Mandelkerns zieht. 

Später kann der Mensch diese Episoden dann jederzeit wieder hervorkramen, weiter erzählen, in Erinnerungen schwelgen und sie neu abspeichern. Durch Wiederholung werden sie tiefer eingebrannt, manchmal auch ein wenig vereinfacht, aufgebauscht oder geschönt. Selbst im hohen Alter, wenn es mit der Merkfähigkeit für neue Fakten und Ereignisse bergab geht, erinnert sich dann mancher Greis gern an die wirklich wichtigen Stunden seines Lebens: den ersten Schultag, den ersten Kuss oder den "ersten Flug mit der Freundin nach London".

JUDITH RAUCH


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