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Antibiotika:
Die Waffe wird stumpf
Droht der Mensch den Kampf gegen
die Bakterie zu verlieren?
Die ältere
Dame, die in das Leipziger Krankenhaus eingeliefert wird, hat hohes
Fieber, einen gefährlich niedrigen Blutdruck und alle Zeichen einer
Blutvergiftung. Während die Patientin auf der Intensivstation um ihr
Leben kämpft, fahndet das Laborpersonal nach dem Erreger. Und tatsächlich:
Im Blut der Leipzigerin finden sich Bakterien. Gewöhnliche Darmbakterien,
aber mit einer gefährlichen Eigenschaft: Keines der gängigen Antibiotika
kann sie abtöten. Mit knapper Not wird die Frau gerettet – dank
Infusionen mit einem hoch dosierten Mittel aus einer selten verwendeten
Antibiotika-Gruppe.
Ein
Wundermittel versagt
Antibiotika sind
aus der modernen Medizin nicht wegzudenken. Fast schon unvorstellbar, dass
noch bis ins 20. Jahrhundert von Bakterien ausgelöste
Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose die häufigste
Todesursache waren. Doch 1928 machte der Mikrobiologe Alexander Fleming in
seinem Londoner Labor eine folgenreiche Entdeckung: Auf einer seiner
Bakterienkulturen hatten sich Schimmelpilze angesiedelt. Und genau an den
Stellen, an denen der Schimmel wuchs, waren die Bakterien eingegangen.
Fleming schloss daraus, dass die Pilze eine antibakterielle Substanz
produzierten. Aus diesem Naturstoff entwickelten zwölf Jahre später die
Wissenschaftler Howard W. Florey und Ernst B. Chain das erste
Antibiotikum: Penicillin. Es wurde erfolgreich bei Wundinfektionen
eingesetzt und rettete noch während des Zweiten Weltkriegs vielen
Soldaten das Leben. Chloramphenicol, Tetracycline und weitere Antibiotika
folgten. Infektionskrankheiten verloren ihren Schrecken. Heute sind über
400 Präparate auf dem Markt; gegen die häufigsten Erreger gibt es gleich
mehrere Mittel. Doch die Wunderwaffe droht stumpf zu werden. Der Grund:
Immer mehr Bakterien werden gegen immer mehr Antibiotika resistent.
Wie
Resistenzen entstehen
Bakterien
vermehren sich rasch. Dabei verändert sich ihre Erbsubstanz nach dem
Zufallsprinzip; man spricht von "spontanen Mutationen". Unter
Milliarden Bakterien gibt es so immer einige Mutanten mit neuen
Eigenschaften und Schutzmechanismen. Bakterien, die den Einsatz eines
Antibiotikums einmal überlebt haben, vermehren sich besonders schnell.
Manche verändern zum Beispiel ihre Zellwände so, dass das Antibiotikum
nicht mehr eindringen kann. Oder sie finden einen Weg, es chemisch
unwirksam zu machen. "Bakterien sind lebendige Wesen, sie wehren sich
eben", sagt Professor Helga Rübsamen-Waigmann. Die Chemikerin leitet
bei der Bayer AG in Wuppertal die Antiinfektiva-Forschung. "Es kommt
zu einem Wettlauf zwischen Mensch und Mikrobe." Hat der mit
krankheitserregenden Bakterien infizierte Mensch Glück, tötet sein
Immunsystem die wenigen resistenten Mutanten auch ohne die Hilfe von
Antibiotika ab. Hat er Pech, vermehren sie sich. Folge: Die Infektion wird
schlimmer oder kehrt nach vorübergehender Besserung wieder. Besonders
gute Wachstumsbedingungen haben resistente Bakterien, wenn bei ständig
wiederkehrenden Infektionen immer wieder dasselbe Antibiotikum verabreicht
wird. Dies zeigt ein Fall aus der Praxis des Frankfurter
Lungenspezialisten Dr. Peter Kardos: Bei einem seiner Patienten hatte sich
eine chronische Bronchitis unter einem Tetracyclin-Präparat stets gut
gebessert. Beim vierten Ausbruch aber versagte das Mittel, der Infekt
breitete sich aus. Der Erkrankte bekam hohes Fieber und musste im
Krankenhaus künstlich beatmet werden. "Bakterien haben heute eine größere
Chance denn je, resistent zu werden", sagt Helga Rübsamen-Waigmann.
Auch Professor Wolfgang Witte, Mikrobiologe am Robert-Koch-Institut in
Wernigerode, warnt: "Wir stehen am Anfang einer gefährlichen
Entwicklung."
Antibiotika
werden zu häufig verordnet
In Deutschland
wurden im Jahr 2001 Antibiotika im Gesamtwert von 756 Millionen Euro
verordnet. Im Schnitt entfielen auf jeden Bundesbürger zwischen 20 und 40
Jahren fünf Tagesdosen. Kinder unter zehn Jahren und alte Menschen über
90 Jahre waren mit 6,6 beziehungsweise 6,1 Tagesdosen die
Spitzenverbraucher. "Die Ärzte verschreiben zu viele
Antibiotika", kritisiert Professor Franz Daschner, Hygienespezialist
und Umweltmediziner an der Universität Freiburg. "Rund 30 bis 50
Prozent aller Verordnungen in Klinik und Praxis sind überflüssig."
Aber auch die Patienten macht er verantwortlich: "Sie haben eine zu
hohe Erwartungshaltung gegenüber ihren Ärzten und möchten, dass der
Doktor sofort etwas verschreibt." Tatsächlich haben Studien gezeigt,
dass Ärzte bei 80 Prozent der Erkältungen Antibiotika verordnen. Dabei
wissen die Mediziner, dass solche Infekte in vier von fünf Fällen durch
Viren verursacht sind, gegen die die Bakterienkiller nichts ausrichten.
Zudem werden zu oft so genannte Breitspektrum-Antibiotika genutzt, die
gegen verschiedene Bakterien wirken, anstatt dass gezielt der tatsächliche
Erreger ermittelt und bekämpft wird.
Antibiotika
werden falsch eingenommen
Antibiotika-Therapie
ist nichts für medizinische Laien. Um Resistenzen zu vermeiden, muss
nicht nur das Mittel stimmen; auch Dosis und Behandlungsdauer müssen
genau abgestimmt sein und eingehalten werden. Eine zu lange Einnahme kann
genauso problematisch sein wie eine zu kurze. Einer der häufigsten
Fehler, den Patienten machen: Sie hören mit der Einnahme zu früh auf,
weil es ihnen schon wieder besser geht. Als Folge davon können sich die
robusteren unter den Erregern, die zwar angeschlagen, aber noch nicht tot
sind, wieder erholen und vermehren – der Rückfall ist programmiert, die
Resistenzentwicklung wird begünstigt.
Mangelnde
Hygiene in Krankenhäusern
Im
Sommer 1991 wurde ein verletzter Soldat aus dem ersten Golf-Krieg ins Städtische
Klinikum Wiesbaden eingeliefert. Er war mit schwerem Wundbrand infiziert.
Schlimmer noch: Sein Erreger, ein so genannter Staphylococcus aureus,
erwies sich als resistent gegen die gängigen Antibiotika. Die Ärzte
mussten daher auf Alternativpräparate ausweichen. Der Soldat starb an der
Infektion. Nicht aber die Bakterien, die sie ausgelöst hatten. Der multi-
oder Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – oder MRSA, so die
Abkürzung für den Superkeim, der den Soldaten befallen hatte – ist der
Schrecken aller Krankenhaushygieniker. Denn wenn Ärzte und Pflegepersonal
nicht höchste Sorgfalt bei der Desinfektion medizinischer Geräte, aber
auch ihrer Hände walten lassen, verbreitet er sich von Patient zu Patient
– und lässt sich nur schwer mit Antibiotika bekämpfen. So kam es auch
in Wiesbaden. Ein Jahr nach Aufnahme des Golfkriegs-Soldaten fand sich der
Superkeim auf fünf Stationen des Wiesbadener Klinikums und in der
Rheumaklinik. Und Wiesbaden ist beileibe nicht der einzige Fall: Professor
Wolfgang Witte, der im Auftrag des Robert-Koch-Instituts die
Staphylokokken-Infektionen systematisch überwacht, zählte im Jahr 2002
allein in Deutschland 333 Krankenhäuser, in denen MRSA grassierten. Schon
der gewöhnliche Staphylococcus aureus ist gefährlich. Besonders für
immungeschwächte Patienten. Bei ihnen kann er eine lebensbedrohende
Blutvergiftung auslösen, bei künstlich beatmeten Kranken kann er zu
Lungenentzündungen führen. Ziehen sich solche Patienten gar die
resistente Form zu, sind sie in höchster Gefahr. Staphylokokken sind für
einen großen Teil der schätzungsweise 800 000 Krankenhausinfektionen
verantwortlich, die in Deutschland jährlich auftreten. Wie viele davon tödlich
enden, ist ungewiss. "Oft ist nicht unterscheidbar, ob der Patient an
der Krankenhausinfektion oder an seiner Grunderkrankung gestorben
ist", erklärt Witte.
Wir
werden immer älter
Der medizinische
Fortschritt begünstigt noch auf andere Art die Verbreitung von
Resistenzen. Er sorgt dafür, dass wir immer älter werden. Schwerkranke,
die früher gestorben wären, werden heute durch Organtransplantationen
gerettet. Der Preis: Es gibt immer mehr Infektionsanfällige Personen. Bei
Greisen ist das Immunsystem geschwächt, bei Transplantierten wird es künstlich
unterdrückt, um eine Organabstoßung zu vermeiden. Solche Patienten
brauchen Unmengen Antibiotika. "Besonders beunruhigend ist das
Auftreten von MRSA in Alten- und Pflegeheimen", sagt Dr. Michael
Kresken, Mikrobiologe und Sprecher der Initiative "Zündstoff
Antibiotika-Resistenz" in Bonn, in der sich mehrere medizinische
Fachgesellschaften zusammengeschlossen haben. Eine überregionale Studie
in 31 deutschen Heimen ergab, dass bereits 2,4 Prozent der Bewohner den
resistenten Superkeim in ihrer Nasen- oder Rachenschleimhaut tragen, ohne
Anzeichen einer Infektion. Harmlos? Nicht, wenn man bedenkt, zu welcher
Gefahr der Erreger für den Träger selbst oder seine Mitbewohner werden
kann. Falls diese an offenen Wunden, beispielsweise einem Dekubitus,
leiden, durch eine Krankheit geschwächt sind oder künstlich ernährt
werden, kann eine MRSA-Infektion schnell den Tod bedeuten.
Wir
reisen mehr denn je
Doch
nicht nur Alte und Schwache sind bedroht. Auch wer jung ist, kann sich mit
resistenten Keimen infizieren, etwa auf Reisen. "Resistente
Bakterien, zum Beispiel resistente Pneumokokken, sind in einigen beliebten
Reisezielen wie Spanien, Italien oder Frankreich viel weiter verbreitet
als in Deutschland", warnt die Initiative "Zündstoff
Antibiotika-Resistenz". Gerade die Franzosen prassen mit Antibiotika:
Sie nehmen dreimal so viele ein wie die Deutschen. In Spanien sind
Antibiotika sogar rezeptfrei in der Apotheke erhältlich, entsprechend
unbesonnen ist der Umgang damit. Professor Witte vom Robert-Koch-Institut
blickt zudem besorgt Richtung Osten, nach Russland und in die anderen
GUS-Staaten: "In diesen Ländern wurde mit billigen Antibiotika
besonders leichtfertig umgegangen", klagt er. "Wir müssen
aufpassen, dass von dort nicht resistente Tuberkulose-Erreger
eingeschleppt werden." Nicht umsonst warnt die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch in den Industrieländern vor einem
Wiedererstarken klassischer Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und
Lungenentzündung – denn in beiden Fällen spielen
Antibiotika-Resistenzen eine Rolle.
Auch
Tiere erhalten Antibiotika
Zwar sind
Antibiotika für die Tiermast inzwischen weitgehend verboten (siehe
"Guten Appetit!", RD Januar 2004). Ein Problem bleiben aber
die Medikamente, die Kalb, Schwein, Huhn und Pute bekommen, wenn sie
krank sind. Oft wird dabei der ganze Stall oder Hühnerhof behandelt,
weil die individuelle Gabe allein an das erkrankte Tier zu aufwändig wäre.
Auch dadurch entstehen Resistenzen. Zurzeit wird die Hälfte aller in
Nordamerika und Europa hergestellten Antibiotika in der Tiermedizin
eingesetzt, nach Ansicht von Experten viel zu viele. Besonders
problematisch: Darunter sind auch Fluorchinolone, moderne Antibiotika,
die in der Intensivmedizin gegen multiresistente Erreger verabreicht
werden. Damit wächst die Gefahr, dass diese Gruppe für den Menschen
zunehmend untauglich wird.
Wege
aus dem Dilemma
Kein
Wunder, dass Experten Alarm schlagen. "Seit Mitte der 80er-Jahre
beobachten wir eine Zunahme der Resistenzen bei zahlreichen
Keimen", erklärt Michael Kresken von der Initiative "Zündstoff
Antibiotika-Resistenz". Und Professor Daschner berichtet: "In
den letzten Jahren stand ich mehrmals vor Patienten, bei denen kein
einziges Antibiotikum mehr wirkte. Das ist ein Zeichen für höchste
Gefahr!" Für etwa die Hälfte dieser Patienten gab es keine
Rettung mehr. Aber es gibt Mittel, um die Resistenzbildung einzudämmen.
Einige dieser Wege werden schon beschritten:
Überwachung:
Neben der WHO hat auch die Europäische Union ein Programm gestartet, um
die Ausbreitung resistenter Bakterienstämme zu beobachten und einzudämmen.
Diese Programme helfen zum Beispiel Ärzten, bei ihren
Antibiotika-Verordnungen bestehende Resistenzen zu berücksichtigen.
Aufklärung:
Ärzte in Kliniken und Praxen, aber auch Patienten sollten umfassender
über den richtigen Antibiotika-Einsatz aufgeklärt werden. "In der
ärztlichen Aus- und Weiterbildung wird nicht genug Wissen über
Infektionskrankheiten und deren Behandlung und Vorbeugung
vermittelt", kritisiert Professor Bernhard Ruf vom Klinikum St.
Georg in Leipzig.
Klinikhygiene:
"Hygiene ist ein häufig unterschätzter Faktor bei der Zunahme
resistenter Bakterien in Deutschland", so Professor Georg Peters
vom Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universität Münster.
Dabei könnten durch Maßnahmen wie Desinfektion und Sterilisation von
Geräten und durch gründliches Waschen und Desinfizieren der Hände
viele Krankenhausinfektionen vermieden werden. Selbst die Verbreitung
schon vorhandener resistenter Keime lässt sich durch perfekte Hygiene
stoppen.
Impfungen:
Zu Antibiotika gibt es wenig Alternativen. Eine davon ist die
Schutzimpfung. Zu den durch Bakterien verursachten Infektionen, vor
denen man sich durch Impfung schützen kann, gehören Tetanus,
Diphtherie und Lungenentzündung. Erwachsene aller Altersgruppen sollten
daran denken, die Tetanus- und Diphtherie-Impfungen alle zehn Jahre
auffrischen zu lassen. Die Immunisierung gegen Lungenentzündung
empfiehlt die "Ständige Impfkommission" der Bundesregierung
allen Personen über 60 Jahre. Diese Impfung sollte alle sechs Jahre
aufgefrischt werden.
Neue
Medikamente: "Die Welt braucht neue Antibiotika", sagt Helga Rübsamen-Waigmann.
Sie ist überzeugt, dass die Pharma-Industrie ihr Pulver noch nicht
verschossen hat. "Bakterien haben viele Gene, an denen wir
angreifen können, und die neuen gentechnischen Methoden helfen uns
dabei." Der Wettlauf zwischen Mensch und Bakterie wird also
weitergehen. Allerdings wird sich der Mensch beeilen müssen, damit die
resistente Mikrobe ihn nicht überholt.
JUDITH RAUCH
Drei
goldene Regeln für Patienten
Auch als
Patient können Sie zur Eindämmung von Resistenzen beitragen:
1.
Bestehen Sie nicht auf einer Verschreibung. Fragen Sie lieber Ihren Arzt,
ob es auch ohne Antibiotika geht.
2.
Nehmen Sie Antibiotika genau in der Menge und genauso lange ein, wie es
Ihnen Ihr Arzt empfohlen hat.
3.
Greifen Sie nicht ohne Verschreibung zu den Mitteln, auch wenn Sie sie in
manchen Urlaubsländern rezeptfrei erwerben können.
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