Judith Rauch schreibt: Reader´s Digest Mai 2004

Antibiotika: Die Waffe wird stumpf

Droht der Mensch den Kampf gegen die Bakterie zu verlieren?

Die ältere Dame, die in das Leipziger Krankenhaus eingeliefert wird, hat hohes Fieber, einen gefährlich niedrigen Blutdruck und alle Zeichen einer Blutvergiftung. Während die Patientin auf der Intensivstation um ihr Leben kämpft, fahndet das Laborpersonal nach dem Erreger. Und tatsächlich: Im Blut der Leipzigerin finden sich Bakterien. Gewöhnliche Darmbakterien, aber mit einer gefährlichen Eigenschaft: Keines der gängigen Antibiotika kann sie abtöten. Mit knapper Not wird die Frau gerettet – dank Infusionen mit einem hoch dosierten Mittel aus einer selten verwendeten Antibiotika-Gruppe.


Ein Wundermittel versagt

Antibiotika sind aus der modernen Medizin nicht wegzudenken. Fast schon unvorstellbar, dass noch bis ins 20. Jahrhundert von Bakterien ausgelöste Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose die häufigste Todesursache waren. Doch 1928 machte der Mikrobiologe Alexander Fleming in seinem Londoner Labor eine folgenreiche Entdeckung: Auf einer seiner Bakterienkulturen hatten sich Schimmelpilze angesiedelt. Und genau an den Stellen, an denen der Schimmel wuchs, waren die Bakterien eingegangen. Fleming schloss daraus, dass die Pilze eine antibakterielle Substanz produzierten. Aus diesem Naturstoff entwickelten zwölf Jahre später die Wissenschaftler Howard W. Florey und Ernst B. Chain das erste Antibiotikum: Penicillin. Es wurde erfolgreich bei Wundinfektionen eingesetzt und rettete noch während des Zweiten Weltkriegs vielen Soldaten das Leben. Chloramphenicol, Tetracycline und weitere Antibiotika folgten. Infektionskrankheiten verloren ihren Schrecken. Heute sind über 400 Präparate auf dem Markt; gegen die häufigsten Erreger gibt es gleich mehrere Mittel. Doch die Wunderwaffe droht stumpf zu werden. Der Grund: Immer mehr Bakterien werden gegen immer mehr Antibiotika resistent.


Wie Resistenzen entstehen

Bakterien vermehren sich rasch. Dabei verändert sich ihre Erbsubstanz nach dem Zufallsprinzip; man spricht von "spontanen Mutationen". Unter Milliarden Bakterien gibt es so immer einige Mutanten mit neuen Eigenschaften und Schutzmechanismen. Bakterien, die den Einsatz eines Antibiotikums einmal überlebt haben, vermehren sich besonders schnell. Manche verändern zum Beispiel ihre Zellwände so, dass das Antibiotikum nicht mehr eindringen kann. Oder sie finden einen Weg, es chemisch unwirksam zu machen. "Bakterien sind lebendige Wesen, sie wehren sich eben", sagt Professor Helga Rübsamen-Waigmann. Die Chemikerin leitet bei der Bayer AG in Wuppertal die Antiinfektiva-Forschung. "Es kommt zu einem Wettlauf zwischen Mensch und Mikrobe." Hat der mit krankheitserregenden Bakterien infizierte Mensch Glück, tötet sein Immunsystem die wenigen resistenten Mutanten auch ohne die Hilfe von Antibiotika ab. Hat er Pech, vermehren sie sich. Folge: Die Infektion wird schlimmer oder kehrt nach vorübergehender Besserung wieder. Besonders gute Wachstumsbedingungen haben resistente Bakterien, wenn bei ständig wiederkehrenden Infektionen immer wieder dasselbe Antibiotikum verabreicht wird. Dies zeigt ein Fall aus der Praxis des Frankfurter Lungenspezialisten Dr. Peter Kardos: Bei einem seiner Patienten hatte sich eine chronische Bronchitis unter einem Tetracyclin-Präparat stets gut gebessert. Beim vierten Ausbruch aber versagte das Mittel, der Infekt breitete sich aus. Der Erkrankte bekam hohes Fieber und musste im Krankenhaus künstlich beatmet werden. "Bakterien haben heute eine größere Chance denn je, resistent zu werden", sagt Helga Rübsamen-Waigmann. Auch Professor Wolfgang Witte, Mikrobiologe am Robert-Koch-Institut in Wernigerode, warnt: "Wir stehen am Anfang einer gefährlichen Entwicklung."



Antibiotika werden zu häufig verordnet

In Deutschland wurden im Jahr 2001 Antibiotika im Gesamtwert von 756 Millionen Euro verordnet. Im Schnitt entfielen auf jeden Bundesbürger zwischen 20 und 40 Jahren fünf Tagesdosen. Kinder unter zehn Jahren und alte Menschen über 90 Jahre waren mit 6,6 beziehungsweise 6,1 Tagesdosen die Spitzenverbraucher. "Die Ärzte verschreiben zu viele Antibiotika", kritisiert Professor Franz Daschner, Hygienespezialist und Umweltmediziner an der Universität Freiburg. "Rund 30 bis 50 Prozent aller Verordnungen in Klinik und Praxis sind überflüssig." Aber auch die Patienten macht er verantwortlich: "Sie haben eine zu hohe Erwartungshaltung gegenüber ihren Ärzten und möchten, dass der Doktor sofort etwas verschreibt." Tatsächlich haben Studien gezeigt, dass Ärzte bei 80 Prozent der Erkältungen Antibiotika verordnen. Dabei wissen die Mediziner, dass solche Infekte in vier von fünf Fällen durch Viren verursacht sind, gegen die die Bakterienkiller nichts ausrichten. Zudem werden zu oft so genannte Breitspektrum-Antibiotika genutzt, die gegen verschiedene Bakterien wirken, anstatt dass gezielt der tatsächliche Erreger ermittelt und bekämpft wird.


Antibiotika werden falsch eingenommen

Antibiotika-Therapie ist nichts für medizinische Laien. Um Resistenzen zu vermeiden, muss nicht nur das Mittel stimmen; auch Dosis und Behandlungsdauer müssen genau abgestimmt sein und eingehalten werden. Eine zu lange Einnahme kann genauso problematisch sein wie eine zu kurze. Einer der häufigsten Fehler, den Patienten machen: Sie hören mit der Einnahme zu früh auf, weil es ihnen schon wieder besser geht. Als Folge davon können sich die robusteren unter den Erregern, die zwar angeschlagen, aber noch nicht tot sind, wieder erholen und vermehren – der Rückfall ist programmiert, die Resistenzentwicklung wird begünstigt.



Mangelnde Hygiene in Krankenhäusern

Im Sommer 1991 wurde ein verletzter Soldat aus dem ersten Golf-Krieg ins Städtische Klinikum Wiesbaden eingeliefert. Er war mit schwerem Wundbrand infiziert. Schlimmer noch: Sein Erreger, ein so genannter Staphylococcus aureus, erwies sich als resistent gegen die gängigen Antibiotika. Die Ärzte mussten daher auf Alternativpräparate ausweichen. Der Soldat starb an der Infektion. Nicht aber die Bakterien, die sie ausgelöst hatten. Der multi- oder Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – oder MRSA, so die Abkürzung für den Superkeim, der den Soldaten befallen hatte – ist der Schrecken aller Krankenhaushygieniker. Denn wenn Ärzte und Pflegepersonal nicht höchste Sorgfalt bei der Desinfektion medizinischer Geräte, aber auch ihrer Hände walten lassen, verbreitet er sich von Patient zu Patient – und lässt sich nur schwer mit Antibiotika bekämpfen. So kam es auch in Wiesbaden. Ein Jahr nach Aufnahme des Golfkriegs-Soldaten fand sich der Superkeim auf fünf Stationen des Wiesbadener Klinikums und in der Rheumaklinik. Und Wiesbaden ist beileibe nicht der einzige Fall: Professor Wolfgang Witte, der im Auftrag des Robert-Koch-Instituts die Staphylokokken-Infektionen systematisch überwacht, zählte im Jahr 2002 allein in Deutschland 333 Krankenhäuser, in denen MRSA grassierten. Schon der gewöhnliche Staphylococcus aureus ist gefährlich. Besonders für immungeschwächte Patienten. Bei ihnen kann er eine lebensbedrohende Blutvergiftung auslösen, bei künstlich beatmeten Kranken kann er zu Lungenentzündungen führen. Ziehen sich solche Patienten gar die resistente Form zu, sind sie in höchster Gefahr. Staphylokokken sind für einen großen Teil der schätzungsweise 800 000 Krankenhausinfektionen verantwortlich, die in Deutschland jährlich auftreten. Wie viele davon tödlich enden, ist ungewiss. "Oft ist nicht unterscheidbar, ob der Patient an der Krankenhausinfektion oder an seiner Grunderkrankung gestorben ist", erklärt Witte.



Wir werden immer älter

Der medizinische Fortschritt begünstigt noch auf andere Art die Verbreitung von Resistenzen. Er sorgt dafür, dass wir immer älter werden. Schwerkranke, die früher gestorben wären, werden heute durch Organtransplantationen gerettet. Der Preis: Es gibt immer mehr Infektionsanfällige Personen. Bei Greisen ist das Immunsystem geschwächt, bei Transplantierten wird es künstlich unterdrückt, um eine Organabstoßung zu vermeiden. Solche Patienten brauchen Unmengen Antibiotika. "Besonders beunruhigend ist das Auftreten von MRSA in Alten- und Pflegeheimen", sagt Dr. Michael Kresken, Mikrobiologe und Sprecher der Initiative "Zündstoff Antibiotika-Resistenz" in Bonn, in der sich mehrere medizinische Fachgesellschaften zusammengeschlossen haben. Eine überregionale Studie in 31 deutschen Heimen ergab, dass bereits 2,4 Prozent der Bewohner den resistenten Superkeim in ihrer Nasen- oder Rachenschleimhaut tragen, ohne Anzeichen einer Infektion. Harmlos? Nicht, wenn man bedenkt, zu welcher Gefahr der Erreger für den Träger selbst oder seine Mitbewohner werden kann. Falls diese an offenen Wunden, beispielsweise einem Dekubitus, leiden, durch eine Krankheit geschwächt sind oder künstlich ernährt werden, kann eine MRSA-Infektion schnell den Tod bedeuten.



Wir reisen mehr denn je

Doch nicht nur Alte und Schwache sind bedroht. Auch wer jung ist, kann sich mit resistenten Keimen infizieren, etwa auf Reisen. "Resistente Bakterien, zum Beispiel resistente Pneumokokken, sind in einigen beliebten Reisezielen wie Spanien, Italien oder Frankreich viel weiter verbreitet als in Deutschland", warnt die Initiative "Zündstoff Antibiotika-Resistenz". Gerade die Franzosen prassen mit Antibiotika: Sie nehmen dreimal so viele ein wie die Deutschen. In Spanien sind Antibiotika sogar rezeptfrei in der Apotheke erhältlich, entsprechend unbesonnen ist der Umgang damit. Professor Witte vom Robert-Koch-Institut blickt zudem besorgt Richtung Osten, nach Russland und in die anderen GUS-Staaten: "In diesen Ländern wurde mit billigen Antibiotika besonders leichtfertig umgegangen", klagt er. "Wir müssen aufpassen, dass von dort nicht resistente Tuberkulose-Erreger eingeschleppt werden." Nicht umsonst warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch in den Industrieländern vor einem Wiedererstarken klassischer Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Lungenentzündung – denn in beiden Fällen spielen Antibiotika-Resistenzen eine Rolle.



Auch Tiere erhalten Antibiotika

Zwar sind Antibiotika für die Tiermast inzwischen weitgehend verboten (siehe "Guten Appetit!", RD Januar 2004). Ein Problem bleiben aber die Medikamente, die Kalb, Schwein, Huhn und Pute bekommen, wenn sie krank sind. Oft wird dabei der ganze Stall oder Hühnerhof behandelt, weil die individuelle Gabe allein an das erkrankte Tier zu aufwändig wäre. Auch dadurch entstehen Resistenzen. Zurzeit wird die Hälfte aller in Nordamerika und Europa hergestellten Antibiotika in der Tiermedizin eingesetzt, nach Ansicht von Experten viel zu viele. Besonders problematisch: Darunter sind auch Fluorchinolone, moderne Antibiotika, die in der Intensivmedizin gegen multiresistente Erreger verabreicht werden. Damit wächst die Gefahr, dass diese Gruppe für den Menschen zunehmend untauglich wird.



Wege aus dem Dilemma

Kein Wunder, dass Experten Alarm schlagen. "Seit Mitte der 80er-Jahre beobachten wir eine Zunahme der Resistenzen bei zahlreichen Keimen", erklärt Michael Kresken von der Initiative "Zündstoff Antibiotika-Resistenz". Und Professor Daschner berichtet: "In den letzten Jahren stand ich mehrmals vor Patienten, bei denen kein einziges Antibiotikum mehr wirkte. Das ist ein Zeichen für höchste Gefahr!" Für etwa die Hälfte dieser Patienten gab es keine Rettung mehr. Aber es gibt Mittel, um die Resistenzbildung einzudämmen. Einige dieser Wege werden schon beschritten: 

Überwachung: Neben der WHO hat auch die Europäische Union ein Programm gestartet, um die Ausbreitung resistenter Bakterienstämme zu beobachten und einzudämmen. Diese Programme helfen zum Beispiel Ärzten, bei ihren Antibiotika-Verordnungen bestehende Resistenzen zu berücksichtigen. 

Aufklärung: Ärzte in Kliniken und Praxen, aber auch Patienten sollten umfassender über den richtigen Antibiotika-Einsatz aufgeklärt werden. "In der ärztlichen Aus- und Weiterbildung wird nicht genug Wissen über Infektionskrankheiten und deren Behandlung und Vorbeugung vermittelt", kritisiert Professor Bernhard Ruf vom Klinikum St. Georg in Leipzig. 

Klinikhygiene: "Hygiene ist ein häufig unterschätzter Faktor bei der Zunahme resistenter Bakterien in Deutschland", so Professor Georg Peters vom Institut für Medizinische Mikrobiologie der Universität Münster. Dabei könnten durch Maßnahmen wie Desinfektion und Sterilisation von Geräten und durch gründliches Waschen und Desinfizieren der Hände viele Krankenhausinfektionen vermieden werden. Selbst die Verbreitung schon vorhandener resistenter Keime lässt sich durch perfekte Hygiene stoppen. 

Impfungen: Zu Antibiotika gibt es wenig Alternativen. Eine davon ist die Schutzimpfung. Zu den durch Bakterien verursachten Infektionen, vor denen man sich durch Impfung schützen kann, gehören Tetanus, Diphtherie und Lungenentzündung. Erwachsene aller Altersgruppen sollten daran denken, die Tetanus- und Diphtherie-Impfungen alle zehn Jahre auffrischen zu lassen. Die Immunisierung gegen Lungenentzündung empfiehlt die "Ständige Impfkommission" der Bundesregierung allen Personen über 60 Jahre. Diese Impfung sollte alle sechs Jahre aufgefrischt werden. 

Neue Medikamente: "Die Welt braucht neue Antibiotika", sagt Helga Rübsamen-Waigmann. Sie ist überzeugt, dass die Pharma-Industrie ihr Pulver noch nicht verschossen hat. "Bakterien haben viele Gene, an denen wir angreifen können, und die neuen gentechnischen Methoden helfen uns dabei." Der Wettlauf zwischen Mensch und Bakterie wird also weitergehen. Allerdings wird sich der Mensch beeilen müssen, damit die resistente Mikrobe ihn nicht überholt.

JUDITH RAUCH



Drei goldene Regeln für Patienten

Auch als Patient können Sie zur Eindämmung von Resistenzen beitragen:

1. Bestehen Sie nicht auf einer Verschreibung. Fragen Sie lieber Ihren Arzt, ob es auch ohne Antibiotika geht.

2. Nehmen Sie Antibiotika genau in der Menge und genauso lange ein, wie es Ihnen Ihr Arzt empfohlen hat.

3. Greifen Sie nicht ohne Verschreibung zu den Mitteln, auch wenn Sie sie in manchen Urlaubsländern rezeptfrei erwerben können.


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