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Zukunftswelten:
An der Uni München forscht eine Gruppe junger Wissenschaftler an der
Entstehung der Alzheimer-Krankheit
Forschen
gegen das Vergessen
"Wenn wir nur lange genug
leben, werden wir alle dement", erklärt Christian Haass. Der Münchner
Biochemiker muss es wissen, denn er erforscht mit seinem Team die
Entstehung der Alzheimer- Krankheit. Weltweit forschen mehr als 3500
Wissenschaftler fieberhaft an der Aufklärung dieser Geißel des Alters.
Ziel: neue, wirksamere Medikamente. Die Münchner sind vorne mit dabei.
"Sie arbeiten auf einem spannenden Feld,
Herr Professor Haass" – "Das kann man wohl sagen", entgegnet der 42-Jährige,
und über sein Jungengesicht zieht ein Strahlen. Geradezu "eine Revolution"
sei das, was sich in den letzten Jahren auf dem Gebiet der
Alzheimer-Forschung tue. Und so jung er ist, an einigen dieser revolutionären
Entdeckungen war der heutige Biochemie-Professor und Leiter des Alzheimer-
und Parkinson-Forschungslabors an der Universität München selbst
beteiligt.
Seit beinahe 100 Jahren ist die Alzheimer-Krankheit bekannt. Doch nach
ihrer Entdeckung durch den Psychiater Alois Alzheimer trat ein "dramatischer
Stillstand" der Forschung ein, wie es Haass ausdrückt. Heute ist das
anders.
Anfang der 80er Jahre studierte Haass in Heidelberg Biologie. Seine
Doktorarbeit machte er am Zentrum für Molekulare Biologie der Universität
Heidelberg (ZMBH). Auf dem gleichen Stockwerk arbeitete Konrad Beyreuther,
der Papst der deutschen Alzheimer-Forschung.
Er hat 1984 zusammen mit einem australischen Kollegen den Eiweißstoff,
der sich bei Alzheimer-Patienten in kleinen Plättchen (Plaques) im Gehirn
ablagert, identifiziert und später seine genetische Herkunft aufgeklärt.
"Nachdem ich Beyreuthers Antrittsvorlesung gehört hatte, war ich fürs
Leben geprägt", sagt Haass. "Er ist ein auffälliger Charakter.
Unheimlich begeistert. Er liebt seine Forschung."
Heute sind Beyreuther, 62, und der 20 Jahre jüngere Haass Konkurrenten in
der Alzheimer-Forschung. Ihre Arbeitsgruppen streiten sich um Platz 1 und
2 im Ranking der meistzitierten neurowissenschaftlichen Veröffentlichungen
aus deutschen Labors. Ebenso wie sein Mentor hat Haass den Potamkin-Preis
der Amerikanischen Akademie für Neurologie erhalten; im gleichen Jahr –
2002 – bekam er noch den millionenschweren Leibniz-Preis hinzu.
Und doch ist da kein Neid, sondern Respekt und Dankbarkeit. "Beyreuther
hat meine Karriere massiv gefördert, obwohl er sich damit selbst
geschadet hat", sagt Haass. "Er hätte mich stoppen können, stattdessen
hat er alles für mich getan." Wieder das Strahlen.
Christian Haass ist ein unkomplizierter Typ, amerikanisch geprägt. Im
Anzug sieht er verkleidet aus, Jeans und Jeanshemd stehen ihm gut. Dabei
leitet er ein Labor mit 50 Mitarbeitern. "Als Forschungsmanager ist er
sensationell", sagt Dr. Philipp Kahle, einer seiner engsten Mitarbeiter. "Er
bringt die richtigen Leute zusammen." Kahle, 36, leitet die
Parkinson-Gruppe in Haass'' Team; denn auch dieser Geißel des Alters will
man hier zuleibe rücken.
In den unscheinbaren Labors des Adolf-Butenandt-Instituts, eines
60er-Jahre-Hinterhofgebäudes in der Münchner Innenstadt, arbeiten die
jungen Mediziner, Biologen, Chemiker und Biophysiker mit einer ganzen
Palette von Methoden, wie sie die Molekularbiologie zurzeit zu bieten hat.
Hier werden Gene kloniert, immunologische Nachweismethoden eingesetzt,
gentechnisch veränderte Mäuse gezüchtet, Eiweißstrukturen unter dem
Mikroskop sichtbar gemacht. Die teuren Mikroskope konnte Haass sich
leisten, weil er knapp 1 Mio. « aus einer privaten Stiftung geschenkt
bekam.
Je nach Fragestellung greifen die flexiblen Forscher auf unterschiedliche
biologische Modelle zurück: Zellkulturen, einen kleinen Wurm namens C.
elegans, Mäuse, Hefen oder Embryonen vom Zebrafisch. Was hier
beeindruckt, sind nicht die Techniken oder Apparate, sondern die Virtuosität,
mit der sie eingesetzt werden. Und die Kühnheit der Fragestellungen.
Haass: "Wissenschaft ist viel einfacher, als man glaubt."
So entdeckte er Anfang der 90er Jahre zusammen mit einem anderen Postdoc
im Labor des Neurologen Dennis Selkoe in den USA, dass das
Amyloid-beta-Peptid – das ist der kleine krankmachende Eiweißstoff im
Gehirn von Alzheimer-Kranken – auch von völlig gesunden Zellen (etwa
Nierenzellen, die in einer Zellkultur gezogen werden) im Rahmen normaler
Stoffwechselvorgänge hergestellt wird. Eine Überraschung für die
Fachwelt. "Wir haben damit die Alzheimer-Forschung völlig neu gestartet",
sagt Haass.
Über Nacht schossen neue Forschungsgruppen aus dem Boden. Auch weltweit
agierende Pharma-Firmen sind mit viel Geld und Manpower in die
Grundlagenforschung eingestiegen. "Die Konkurrenz ist brutal geworden",
sagt der Pionier, und für einen Moment verschwindet das Strahlen aus
seinem Gesicht.
Am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim gelang ihm der
Nachweis, dass die Produkte zweier Gene (Präseniline), die man schon
lange mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung bringt, Bestandteile einer
der molekularen "Scheren" (Sekretasen) sind, welche das böse Amyloid aus
einem größeren Eiweißstoff herausschneiden.
Im Münchner Adolf-Butenandt-Institut, dessen Lehrstuhl für
Stoffwechselbiochemie Haass seit 1999 inne hat, wird mit großem Tempo an
diesen Scheren weiter geforscht. Denn genau hier, am Anfang einer "Kaskade
von Reaktionen, die zu der Alzheimer-Krankheit führen", so der
Wissenschaftler, erwartet er Ansatzpunkte für neue Medikamente zu finden.
"Medikamente, die nicht nur die Symptome bekämpfen, sondern die Krankheit
heilen oder sie verhindern" verspricht er. "Dazu müssen wir an die Wurzel
gehen und die Mechanismen aufklären."
Während Schere Nr. 1, die Beta-Sekretase, einfach aufgebaut ist und den
Laboratorien der Pharma-Industrie in großen Mengen zur Verfügung steht,
ist Schere Nr. 2 komplizierter. Sie schwimmt nicht frei im Plasma der
Nervenzelle oder außerhalb, sondern ist fest in die Hüllmembran
eingebaut. Und sie besteht nicht nur aus der "Klinge" (dem Präsenilin),
sondern auch einer "Schraube" namens Nicastrin. Erst vor ein paar Monaten
hat Dr. Dieter Edbauer aus Haass'' Team gezeigt, dass die Schere
auseinander fällt, wenn man die "Schraube" entfernt.
Der Star des Labors steht in einer Ecke über seinen Computer gebeugt, den
linken Fuß auf dem Boden, das rechte Knie auf dem Stuhl. In dieser
unbequemen Haltung wirkt Edbauer sehr konzentriert. Ein Interview über
seine Entdeckung? "Muss das jetzt sein?" Mit vorwurfsvollem Blick schaut
er vom Bildschirm auf, die Augen rot gerändert. "Ja, so sind sie, unsere
jungen Genies", kommentiert sein Chef fröhlich. "Arbeiten Tag und Nacht für
die Wissenschaft."
Also erklärt er selbst: "Ein Alzheimer-Medikament haben wir damit noch
nicht in der Hand", bedauert Haass. "Denn die Hemmstoffe der
Gamma-Sekretase sind hochgiftig." Er selbst hat zusammen mit einer
Kollegin in einem spektakulären Experiment gezeigt, dass sie für
Fisch-Embryonen tödlich sind. Auch erwachsene Menschen müssen mit
Nebenwirkungen rechnen: Die Reifung von Stammzellen wird gestört. Das
kann das Blutbild verändern oder die Neubildung von Hirnzellen
verhindern.
Und dennoch: "Bevor ich Alzheimer bekomme, würde ich ein solches
Medikament nehmen", beteuert Haass. Ebenso wie der Parkinson-Experte Kahle
hat er einen tiefen Horror vor den degenerativen Erkrankungen des
menschlichen Gehirns, deren wahres Ausmaß erst in den letzten zehn Jahren
ernst genommen wurde (siehe Kasten). "Wir alle kriegen das", seufzt der
42-Jährige, der aus einer Arztfamilie stammt. "Wenn wir nur lange genug
leben, werden wir alle dement."
Darum kann er auch nicht verstehen, warum sich Psychiater mit den heute
verfügbaren Alzheimer-Medikamenten zufrieden geben. "Die lindern doch nur
die Symptome und das nicht einmal verlässlich", sagt der
Grundlagenforscher. "Unsere Ansätze dagegen sind wissenschaftlich
fundiert." Erst kürzlich hat er sich bei einer Veranstaltung mit Münchner
Medizinern deswegen angelegt, die ihm vorwarfen "die heutigen Patienten zu
vergessen".
Tatsächlich: Die Alzheimer-Patienten von heute interessieren Christian
Haass nicht. Er arbeitet für die Patienten von morgen. "Wir liefern der
Pharma-Industrie die Zielmoleküle", erklärt er. "Bis daraus sichere
Medikamente werden oder ein Vorsorgeprogramm für alle Menschen über 65,
kann es zehn Jahre, zwanzig Jahre oder länger dauern." Vielleicht komme
er selbst noch in ihren Genuss. "Vielleicht aber erst meine Kinder oder
Enkel. Ich bin mir aber sicher, sie werden im Alter nicht so leiden müssen
wie die heutige alte Generation."
JUDITH RAUCH
http://haass.web.med.uni-muenchen.de/start/main_de.html
Alzheimer-Krankheit
Rund 950 000 Menschen in Deutschland leiden
an einer Altersdemenz: einer degenerativen Krankheit, die das Gehirn
angreift, Intelligenz, Gedächtnis und Persönlichkeit schleichend
zerstört. Bei mehr als der Hälfte von ihnen ist es die tödliche
Alzheimer-Krankheit. Sie ist durch Eiweißablagerungen im Gehirn
gekennzeichnet, die der Münchner Psychiater Alois Alzheimer 1906 zum
ersten Mal beschrieben hat. Heutige Medikamente wie Cholinesterase-Hemmer
und Cholesterin-Senker können sie anfangs lindern, aber nicht heilen. An
einer Impfung wird geforscht, doch gab es Rückschläge. Die Kosten der
Erkrankung beziffern Experten mit 30 000 " pro Jahr und Patient. Da
die Menschen in den Industrieländern immer älter werden, rechnet man bis
zum Jahr 2050 mit einer Verdoppelung der Patientenzahlen - eine drohende
Katastrophe für das Gesundheitswesen. (jr)
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