Judith Rauch schreibt: Bild der Wissenschaft Januar 2004

Kabinett der künstlichen Köpfe

Für die Forschung entwickelt, von Hollywood begehrt: Die Gesichter-Datenbank des Tübinger Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik.

Sie möchten die Mona Lisa in 3-D sehen? Sie wüssten gern, wie Ihr Gesicht aussähe, wenn Sie ein paar Kilo abnähmen? Oder Sie wünschen sich für Ihre Homepage eine virtuelle Figur, deren Antlitz Ihrem Schönheitsideal genau entspricht?

All das und noch viel mehr ist möglich durch eine Datenbank aus 200 lebensechten Gesichtern, die am Max-Planck-Institut (MPI) für biologische Kybernetik in Tübingen entwickelt wurde. Die künstlichen Köpfe lassen sich mithilfe geeigneter Software aus allen Blickwinkeln betrachten, grafisch verändern, mit einer Mimik animieren, in wechselnder Beleuchtung oder, wenn gewünscht, mit Hüten oder Brillen ausstatten. Entwickelt wurde die Gesichter-Datenbank für Studien zur Gesichtererkennung, die im Rahmen der Wahrnehmungsforschung (Psychophysik) am Institut Tradition haben.

Über das "Morphable Face Model", einen raffinierten mathematischen Algorithmus, der zusammen mit der Datenbank entwickelt wurde, lassen sich aber auch jederzeit völlig neue Köpfe generieren: Aus einem Foto oder Gemälde wird so ein dreidimensionaler Kopf. Aus einer Frau wird ein Mann – oder umgekehrt.

Und natürlich sind "Morphing"- Experimente möglich: Ein Gesicht wird allmählich und wie von Zauberhand in ein anderes überführt – ein älteres, dickeres, schöneres, prägnanteres oder symmetrischeres Alter Ego seines früheren Selbst. Vorhandene Gesichter lassen sich zu beliebigen Anteilen mischen.

"Wenn Sie früher im Trickfilm oder in der Werbung gemorphte Bilder sahen, etwa einen Prominenten, der sich in einen Affen verwandelt oder umgekehrt, steckte dahinter aufwendigste Handarbeit", sagt Prof. Heinrich Bülthoff, Direktor der Abteilung für Humanpsychophysik, in der die Köpfe im Computer entstanden. "Man arbeitete damals mit rund 30 bis 100 Extrempunkten im Gesicht, etwa an der Nasenspitze oder am rechten und linken Mundwinkel, die miteinander in Korrespondenz gebracht und dann so ineinander überführt wurden, dass auch die Zwischenräume gut aussahen. Wir wollten eine höhere Auflösung haben und ein automatisches Verfahren."

Dies gelang – durch Lasertechnik, leistungsstarke Rechner und viel Mathematik. Volker Blanz und Thomas Vetter, zwei junge Physiker, machten sich Ende der neunziger Jahre daran, 200 reale Köpfe von Studenten, Bekannten und Kollegen mit einem Laserscanner rundum aufzunehmen. Die gewonnenen Daten mischten Sie mithilfe des von ihnen entwickelten "Optical-flow"-Algorithmus so, dass keiner der heutigen Datenbank-Bewohner mehr einer real existierenden Person gleicht.

Nun begannen die beiden Forscher, die Gesichter zu manipulieren. Während der Rechner die Antlitze nach Zufallskriterien mischte, entwickelten Vetter und Blanz Rechen-Schemata, um sie gezielt zu verändern. Mit diesen Algorithmen kann jeder Forscher Symmetrie, Fülle, Geschlecht oder Attraktivität variieren. "Bei der Attraktivität wird es natürlich subjektiv", meint Bülthoff, während er eine mathematisch verschönerte Variante der Mona Lisa auf seinem Bildschirm betrachtet. "Es handelt sich um das Schönheitsideal von Volker Blanz, der jeden Kopf in der Datenbank persönlich bewertet hat.

Nicht um Schönheit, sondern um Forschungen über die Relevanz der Mimik für die Wiedererkennung von Gesichtern ging es der Biologin und Mathematikerin Barbara Knappmeyer und dem Psychologen Dr. Ian Thornton am gleichen Institut: Für ihre Doktorarbeiten klebten sich die beiden farbige Schaumstoffpunkte als Marker ins Gesicht und grimassierten vor einer Filmkamera. Um eine Vielzahl menschlicher Mimiken zu bekommen, mussten sechs Laienschauspieler dasselbe machen. Das Lächeln, Staunen, Stirnrunzeln und Kauen der Gepunkteten verarbeitete ein Rechner – und verlieh diese neuen Mimiken den virtuellen Datenbank-Bewohnern.

Im nächsten Schritt lernten sieben Versuchspersonen die künstlichen Köpfe kennen, bis sie virtuelle Gesichterpaare, etwa "Lester" und "Stefan", mit deren typischer Mimik verbinden konnten. Anschließend vermischten Knappmeyer und Thornton die Gesichter und verpassten ihnen eine neue Mimik. Würden die Versuchspersonen einen 60- oder 70-Prozent-Lester immer noch für Lester halten, wenn er mit der Mimik von Stefan grinste?

Die meisten taten es nicht: Ein Mischwesen wurde nur dann für Lester gehalten, wenn es wie Lester grimassierte und sich nicht seine Mimik bei Stefan ausgeliehen hatte. Offensichtlich verrechnet das Gehirn Form- und Bewegungsinformation. Zwar überwiegt beim Wiedererkennen die Forminformation, doch die Mimik fließt beim Urteil "Wer ist’s?" mit ein.

Dr. Isabelle Bülthoff ging der Frage nach, wie unser Gehirn weibliche von männlichen Gesichtern unterscheidet. Liegen hier zwei klar getrennte Kategorien vor – oder toleriert unser Gehirn einen fließenden Übergang? Die Biologin hat dafür Morphing-Reihen geschaffen, bei denen ein Frauengesicht schrittweise in ein Männergesicht überführt wird, und sie Versuchspersonen gezeigt. Ihr Befund: Das Gehirn hat kein automatisches Geschlechtertrennungssystem. Menschen können zwar bei sehr männlich oder sehr weiblich wirkenden Antlitzen das Geschlecht eines Menschen recht gut am Gesicht ablesen, aber bei Androgynen schaffen sie es nicht. Anders als bei den so genannten kategorischen Unterschieden – wie Farben oder Lauten –, neigt das Gehirn bei Gesichtern nicht zu Übertreibungen. Normalerweise überspitzt es bei unklaren Eindrücken kleine Unterschiede, um sie in eine bestimmte Schublade zu bekannten Sachverhalten packen zu können. Offensichtlich verlassen wir uns im Alltag auch noch auf andere Signale wie Haartracht, Kleidung, Figur, Bewegung und Stimme.

In Zukunft wird man die künstlichen Köpfe aus Tübingen sicherlich noch in vielen weiteren wissenschaftlichen Arbeiten erblicken, denn sie haben Eingang gefunden in die internationale Wahrnehmungsforschung. Wer sie für diesen Zweck nutzen will, kann eine Auswahl nach Anmeldung einfach vom Internet herunterladen. Für eine kommerzielle Nutzung werden allerdings Gebühren fällig: etwa wenn ein plastischer Chirurg eine Operation planen oder ein Filmproduzent einen synthetischen Schauspieler kreieren möchte.

Die Kunstkopf-Erfinder Volker Blanz und Thomas Vetter sind übrigens der Wissenschaft treu geblieben, obwohl es, wie ihr früherer Chef verrät, "Job-Angebote aus Hollywood" gegeben hat: Blanz forscht heute am Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken, Vetter unterrichtet sein Spezialgebiet Bildverarbeitung und Computergrafik als Professor an der Universität Basel.


JUDITH RAUCH



Kompakt

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Mit neuen Rechenmethoden lassen sich Bilder von Gesichtern beliebig manipulieren.



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