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Kabinett
der künstlichen Köpfe
Für die Forschung entwickelt, von
Hollywood begehrt: Die Gesichter-Datenbank des Tübinger
Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik.
Sie möchten die
Mona Lisa in 3-D sehen? Sie wüssten gern, wie Ihr Gesicht aussähe, wenn
Sie ein paar Kilo abnähmen? Oder Sie wünschen sich für Ihre Homepage
eine virtuelle Figur, deren Antlitz Ihrem Schönheitsideal genau
entspricht?
All das und noch viel mehr ist möglich durch eine Datenbank aus 200
lebensechten Gesichtern, die am Max-Planck-Institut (MPI) für biologische
Kybernetik in Tübingen entwickelt wurde. Die künstlichen Köpfe lassen
sich mithilfe geeigneter Software aus allen Blickwinkeln betrachten,
grafisch verändern, mit einer Mimik animieren, in wechselnder Beleuchtung
oder, wenn gewünscht, mit Hüten oder Brillen ausstatten. Entwickelt
wurde die Gesichter-Datenbank für Studien zur Gesichtererkennung, die im
Rahmen der Wahrnehmungsforschung (Psychophysik) am Institut Tradition
haben.
Über das "Morphable Face Model", einen raffinierten mathematischen
Algorithmus, der zusammen mit der Datenbank entwickelt wurde, lassen sich
aber auch jederzeit völlig neue Köpfe generieren: Aus einem Foto oder
Gemälde wird so ein dreidimensionaler Kopf. Aus einer Frau wird ein Mann
– oder umgekehrt.
Und natürlich sind "Morphing"- Experimente möglich: Ein Gesicht wird
allmählich und wie von Zauberhand in ein anderes überführt – ein älteres,
dickeres, schöneres, prägnanteres oder symmetrischeres Alter Ego seines
früheren Selbst. Vorhandene Gesichter lassen sich zu beliebigen Anteilen
mischen.
"Wenn Sie früher im Trickfilm oder in der Werbung gemorphte Bilder sahen,
etwa einen Prominenten, der sich in einen Affen verwandelt oder umgekehrt,
steckte dahinter aufwendigste Handarbeit", sagt Prof. Heinrich Bülthoff,
Direktor der Abteilung für Humanpsychophysik, in der die Köpfe im
Computer entstanden. "Man arbeitete damals mit rund 30 bis 100
Extrempunkten im Gesicht, etwa an der Nasenspitze oder am rechten und
linken Mundwinkel, die miteinander in Korrespondenz gebracht und dann so
ineinander überführt wurden, dass auch die Zwischenräume gut aussahen.
Wir wollten eine höhere Auflösung haben und ein automatisches Verfahren."
Dies gelang – durch Lasertechnik, leistungsstarke Rechner und viel
Mathematik. Volker Blanz und Thomas Vetter, zwei junge Physiker, machten
sich Ende der neunziger Jahre daran, 200 reale Köpfe von Studenten,
Bekannten und Kollegen mit einem Laserscanner rundum aufzunehmen. Die
gewonnenen Daten mischten Sie mithilfe des von ihnen entwickelten "Optical-flow"-Algorithmus
so, dass keiner der heutigen Datenbank-Bewohner mehr einer real
existierenden Person gleicht.
Nun begannen die beiden Forscher, die Gesichter zu manipulieren. Während
der Rechner die Antlitze nach Zufallskriterien mischte, entwickelten
Vetter und Blanz Rechen-Schemata, um sie gezielt zu verändern. Mit diesen
Algorithmen kann jeder Forscher Symmetrie, Fülle, Geschlecht oder
Attraktivität variieren. "Bei der Attraktivität wird es natürlich
subjektiv", meint Bülthoff, während er eine mathematisch verschönerte
Variante der Mona Lisa auf seinem Bildschirm betrachtet. "Es handelt sich
um das Schönheitsideal von Volker Blanz, der jeden Kopf in der Datenbank
persönlich bewertet hat.
Nicht um Schönheit, sondern um Forschungen
über die Relevanz der Mimik für die Wiedererkennung von Gesichtern ging
es der Biologin und Mathematikerin Barbara Knappmeyer und dem Psychologen
Dr. Ian Thornton am gleichen Institut: Für ihre Doktorarbeiten klebten
sich die beiden farbige Schaumstoffpunkte als Marker ins Gesicht und
grimassierten vor einer Filmkamera. Um eine Vielzahl menschlicher Mimiken
zu bekommen, mussten sechs Laienschauspieler dasselbe machen. Das Lächeln,
Staunen, Stirnrunzeln und Kauen der Gepunkteten verarbeitete ein Rechner
– und verlieh diese neuen Mimiken den virtuellen Datenbank-Bewohnern.
Im nächsten Schritt lernten sieben Versuchspersonen die künstlichen Köpfe
kennen, bis sie virtuelle Gesichterpaare, etwa "Lester" und "Stefan",
mit deren typischer Mimik verbinden konnten. Anschließend vermischten
Knappmeyer und Thornton die Gesichter und verpassten ihnen eine neue
Mimik. Würden die Versuchspersonen einen 60- oder 70-Prozent-Lester immer
noch für Lester halten, wenn er mit der Mimik von Stefan grinste?
Die meisten taten es nicht: Ein Mischwesen wurde nur dann für Lester
gehalten, wenn es wie Lester grimassierte und sich nicht seine Mimik bei
Stefan ausgeliehen hatte. Offensichtlich verrechnet das Gehirn Form- und
Bewegungsinformation. Zwar überwiegt beim Wiedererkennen die
Forminformation, doch die Mimik fließt beim Urteil "Wer ist’s?"
mit ein.
Dr. Isabelle Bülthoff ging der Frage nach, wie unser Gehirn weibliche von
männlichen Gesichtern unterscheidet. Liegen hier zwei klar getrennte
Kategorien vor – oder toleriert unser Gehirn einen fließenden Übergang?
Die Biologin hat dafür Morphing-Reihen geschaffen, bei denen ein
Frauengesicht schrittweise in ein Männergesicht überführt wird, und sie
Versuchspersonen gezeigt. Ihr Befund: Das Gehirn hat kein automatisches
Geschlechtertrennungssystem. Menschen können zwar bei sehr männlich oder
sehr weiblich wirkenden Antlitzen das Geschlecht eines Menschen recht gut
am Gesicht ablesen, aber bei Androgynen schaffen sie es nicht. Anders als
bei den so genannten kategorischen Unterschieden – wie Farben oder
Lauten –, neigt das Gehirn bei Gesichtern nicht zu Übertreibungen.
Normalerweise überspitzt es bei unklaren Eindrücken kleine Unterschiede,
um sie in eine bestimmte Schublade zu bekannten Sachverhalten packen zu können.
Offensichtlich verlassen wir uns im Alltag auch noch auf andere Signale
wie Haartracht, Kleidung, Figur, Bewegung und Stimme.
In Zukunft wird man die künstlichen Köpfe aus Tübingen sicherlich noch
in vielen weiteren wissenschaftlichen Arbeiten erblicken, denn sie haben
Eingang gefunden in die internationale Wahrnehmungsforschung. Wer sie für
diesen Zweck nutzen will, kann eine Auswahl nach Anmeldung einfach vom
Internet herunterladen. Für eine kommerzielle Nutzung werden
allerdings Gebühren fällig: etwa wenn ein plastischer Chirurg eine
Operation planen oder ein Filmproduzent einen synthetischen Schauspieler
kreieren möchte.
Die Kunstkopf-Erfinder Volker Blanz und Thomas Vetter sind übrigens der
Wissenschaft treu geblieben, obwohl es, wie ihr früherer Chef verrät, "Job-Angebote
aus Hollywood" gegeben hat: Blanz forscht heute am
Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken, Vetter unterrichtet
sein Spezialgebiet Bildverarbeitung und Computergrafik als Professor an
der Universität Basel.
JUDITH RAUCH
Kompakt
Mit Computermodellen prüfen Tübinger Forscher, wie
Menschen Gesichter beurteilen.
Mit neuen Rechenmethoden lassen sich Bilder von
Gesichtern beliebig manipulieren.
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zum Thema: Wie wir Gesichter erkennen
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