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       Ausdruck: 
         
        Wie
      wir Gesichter erkennen 
       
      Schon Aristoteles soll daran
      herumgerätselt haben: Wie erkennen wir eigentlich ein bekanntes Gesicht?
      An den Einzelheiten wie Nase, Mund und Stirnglatze? Oder am
      Gesamteindruck? Spielt vielleicht auch die Mimik eine Rolle?
      Wissenschaftler sind dabei, das Puzzle zusammenzusetzen 
       
      "Die
      unterhaltendste Fläche auf der Erde ist für uns die des menschlichen
      Gesichts", befand Ende des 18. Jahrhunderts der Inhaber des ersten
      deutschen Lehrstuhls für Experimentalphysik, Georg Christoph Lichtenberg.
      Diese Einschätzung teilen schon die kleinsten Babys: Sie interessieren
      sich vom ersten Tag an intensiv für Gesichter, wie
      Entwicklungspsychologen beobachtet haben. 
       
      Nicht ohne Grund. "Das menschliche Gesicht sendet eine verblüffende
      Vielfalt wichtiger sozialer Signale aus, die von anderen entdeckt und
      interpretiert werden können", schreiben die britischen Psychologen Vicki
      Bruce und Andy Young in einem aktuellen Standardwerk über
      Gesichterwahrnehmung. "Ein Gesicht sagt uns, ob sein Träger alt oder jung
      ist, männlich oder weiblich, traurig oder froh, ob er von uns angezogen
      oder abgestoßen ist, interessiert an dem, was wir zu sagen haben, oder ob
      er sich langweilt und am liebsten gehen möchte." 
       
      Große Teile unseres Gehirns sind mit der Wahrnehmung von Gesichtern
      befasst. Und zwar, wie sich gezeigt hat, in spezialisierter Weise: Es gibt
      Areale, die für das Erkennen einer Person wichtig sind, andere sind aktiv
      bei der Deutung von Gefühlen. Heute können Mediziner diese Areale mit
      bildgebenden Verfahren identifizieren, indem sie beispielsweise mittels
      Magnetresonanztomografie die Blutversorgung bestimmter Hirnregionen
      messen, während die Versuchsperson Wahrnehmungsaufgaben löst. 
       
      Auch Hirnverletzte mit eigenartigen Störungen liefern Hinweise auf diese
      Spezialisierungen. "Prosopagnostiker" nennt man Menschen, die
      angeborenermaßen oder nach einer Verletzung im rechten Schläfenlappen
      nicht (mehr) in der Lage sind, Familienmitglieder und Bekannte zu erkennen
      – ein Krankheitsbild, dessen Folgen man sich nicht drastisch genug
      ausmalen kann! Andere haben Probleme, sich neue, unbekannte Gesichter
      einzuprägen, während sie bekannte ohne Schwierigkeit identifizieren. 
       
      Betrifft ein Hirnschaden die Amygdala (den Mandelkern), kann der
      Betroffene Emotionen wie Furcht und Ärger nicht mehr von den Gesichtern
      seiner Nächsten ablesen. Auch andere Gefahrensignale werden falsch
      gedeutet: So blieb Yvette, eine Patientin, deren Amygdala durch eine
      Enzephalitis (Gehirnentzündung) geschädigt war, bei einem Raubüberfall
      völlig kaltblütig; der harmlose Streit zweier Darstellerinnen in einer
      TV-Seifenoper versetzte sie jedoch in Panik. 
       
      Heute ist die Landkarte der gesichterrelevanten Hirnzentren recht gut
      bekannt. Hirnforscher untersuchen sogar das Antwortverhalten einzelner
      Nervenzellen, um herauszufinden, auf welche Aspekte von Gesichtern sie
      spezialisiert sind und wie diese Informationen kodiert werden. Der
      Neurochirurg Itzhak Fried aus Los Angeles beispielsweise piekste
      Epilepsiepatienten feine Mikroelektroden in den mittleren Schläfenlappen,
      um ihre Anfallsbereitschaft zu messen. Als Nebenergebnis fand er vor drei
      Jahren heraus, "dass dieselben Gehirnzellen, die beim Anblick des Bildes
      der Mona Lisa feuern, dies auch tun, wenn man eine Person auffordert, sich
      das Bild der Mona Lisa im Geiste vorzustellen". 
       
      Dank der neuen Techniken boomt die Gesichterforschung. "Noch bis 1950
      wurden weniger als 20 Artikel pro Jahrzehnt zum Thema Gesichtserkennung
      veröffentlicht", schreibt die Tübingerin Barbara Knappmeyer, die am
      Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik an Gesichtern forscht. "In
      den 1970er Jahren waren es bereits über 600 und in den 1990ern über 1000
      Beiträge." Die Fragestellungen sind dabei aber oft uralt. 
       
      Wie nehmen wir Gesichter eigentlich wahr – als Ganzes oder in Teilen?
      Ist es die Kombination aus blonden Haaren, feisten Bäckchen und breitem
      Grinsen, die uns an Dieter Bohlen denken lässt – oder eine
      ganzheitliche Bohlenhaftigkeit, die man nicht weiter analysieren kann? Das
      ist eine Frage, mit der sich (ohne den Mann zu kennen) schon Aristoteles
      herumgeschlagen haben soll. Heute geht ihr mit großer Akribie Gudrun
      Schwarzer nach. Die Psychologin leitet eine Arbeitsgruppe am
      Friedrich-Miescher-Laboratorium, in enger Nachbarschaft zum Tübinger
      Max-Planck-Institut. Schwarzer untersucht die Entwicklung der
      Objektwahrnehmung vom Säugling bis zum Erwachsenen – und sie benutzt
      dafür Gesichter als "Stimulus mit großer ökologischer Relevanz". 
       
      Ein typischer Versuchsaufbau sieht bei ihr etwa so aus: Ein acht Monate
      altes Baby (es sind Kinder aus dem Kreis Tübingen, die Schwarzers Team über
      Geburtsanzeigen ausfindig macht) nimmt, von Mutter oder Vater gehalten,
      auf einem Spezialsitz Platz. Es schaut in eine große, weiße Metallkugel
      hinein, die äußere Reize wegblendet. Auf einem Monitor ihm gegenüber
      erscheint ein Gesicht – zum Beispiel die Strichzeichnung einer Frau. Das
      Kind schaut sich das bis zu einer halben Minute lang neugierig an. Sobald
      es das Interesse verliert und wegschaut, wird wieder ein Gesicht
      eingeblendet. Ist es dieselbe Frau wie zuvor, guckt das Baby nur kurz hin
      – ihm wird schnell langweilig. Ist es ein neues Gesicht, etwa ein Mädchen,
      studiert es das lange und interessiert. "Die Zeitspanne der Aufmerksamkeit
      ist für uns das Maß dafür, ob das Baby einen Reiz als neu oder als
      gewohnt empfindet", erklärt Schwarzer. So kann sie ganz ohne Worte das
      Unterscheidungsvermögen von Säuglingen messen. 
       
      Was geschieht nun, wenn man die Reize mischt, hat sich Schwarzer gefragt.
      Nachdem sie das Versuchsbaby an das Kinder- und das Erwachsenengesicht gewöhnt
      hat, zeigt sie ihm in einem zweiten Schritt ein so genanntes "Switch-Gesicht",
      etwa ein Erwachsenengesicht mit einem Kindermund. Eigentlich kennt das
      Kind schon alle Einzelteile: Umriss, Augen und Nase der Frau ebenso wie
      den Mund des Mädchens. Würde es Gesichter rein analytisch verarbeiten,
      so argumentiert die Psychologin, müsste es das Switch-Gesicht kalt
      lassen. Doch die Kombination ist neu. Wird das Baby dies bemerken? "Das wäre
      ein Hinweis auf ganzheitliche oder holistische Verarbeitung." 
       
      Die Antwort ist erstaunlich komplex: Achtmonatige Babys reagieren auf die
      Mundveränderung. Wenn hingegen Augen, Nase oder die Gesichtskontur
      ausgetauscht werden, ist es ihnen egal. Die Entwicklungspsychologin hat
      das zunächst so interpretiert: "Vermutlich ist der Mund wichtiger als die
      anderen Gesichtselemente. Das Kind beachtet Münder, weil sie sich ständig
      bewegen – beim Lächeln, Lachen, Reden der Erwachsenen." In neueren
      Versuchen, in denen statt der Strichzeichnungen Fotos verwendet wurden,
      hat sie jedoch beobachtet, dass achtmonatige Babys auch die Augen schon in
      die Gesamtheit des Gesichts integrieren können, sechsmonatige jedoch noch
      nicht. 
       
      Diese Ergebnisse sind Teil einer Längsschnittstudie, mit der die
      Psychologin untersucht, wie sich das holistische Erkennen im ersten
      Lebensjahr allmählich aufbaut. Denn so viel weiß sie schon aus vielen
      eigenen Studien mit älteren Kindern und Erwachsenen: "Das analytische
      Erkennen ist primär, das holistische kommt später hinzu." Das
      Neugeborene betrachtet ein Gesicht zunächst Stück für Stück, erst mit
      fortschreitendem Alter integriert das Kind die Teile allmählich zu einem
      Ganzen. Lange hatten Entwicklungspsychologen und Gestalttheoretiker
      geglaubt, Kinder seien "ganzheitlich" orientiert. Pädagogen griffen den
      Faden auf – mit teilweise bizarren Resultaten. In den 60er und 70er
      Jahren quälte man Grundschüler im Deutschunterricht mit der
      Ganzwortmethode und im Rechnen mit Mengenlehre, statt ihnen schlicht die
      Buchstaben und Zahlen beizubringen. Heute wird allmählich klar: Kinder
      sind eher Analytiker und Erwachsene auch nur unvollkommene Holistiker. Je
      nach Aufgabenstellung hat Gudrun Schwarzer bei ihren Gesichterstudien auch
      unter den Erwachsenen 30 Prozent oder mehr Analytiker dabei. 
       
      "Offensichtlich führen verschiedene Strategien zum Erfolg", sagt sie, "und
      es hängt von den Bedingungen ab, welche gewählt wird." Steht ein Gesicht
      zum Beispiel auf dem Kopf, liefert die ganzheitliche Strategie zielführende,
      aber ungenaue Ergebnisse: Beim Versuch, die Teile wie gewohnt zu einem
      bekannten Antlitz zu integrieren, übersieht das Gehirn dann mitunter
      wesentliche Details, wie die berühmt gewordene Wahrnehmungstäuschung mit
      dem umgedrehten Margaret-Thatcher-Gesicht beweist (siehe Abbildung unten). 
       
      Fest steht: Mit zunehmendem Wissen und wachsender Erfahrung verändert
      sich unsere Wahrnehmung. Sechsjährige Kinder haben mit kopfstehenden
      Gesichtern noch nicht die gleichen Schwierigkeiten wie ältere Kinder und
      Erwachsene. Sechs Monate alte Babys, das zeigt eine britische Studie aus
      dem Jahr 2002, können sogar Affen am Gesicht unterscheiden, während bei
      größeren Kindern und Erwachsenen diese Fähigkeit fast vollkommen
      verloren geht. Stattdessen wächst, natürlich auch unter dem Einfluss des
      Spracherwerbs, die Kompetenz, alltagsrelevante Objekte sinnvollen
      Kategorien zuzuordnen: Vogel oder Flugzeug? Kind oder Erwachsener? Mann
      oder Frau? 
       
      Letzteres scheint nicht angeboren zu sein, sagen Wahrnehmungsforscher und
      Entwicklungspsychologen, sondern muss vom Kind erlernt werden. Wie Vicki
      Bruce und Andy Young zusammenfassend belegen, sind Erwachsene jedoch –
      zum Glück! – recht gut im korrekten Erkennen des Geschlechts ihres
      Gegenübers. Auch wenn auf einem Foto kulturelle Zeichen wie Frisur, Bart
      oder Make-up fehlen, liegen Versuchspersonen zu 95 Prozent richtig mit
      ihrer Einschätzung. 
       
      Dabei sind es relativ kleine Unterschiede, die ein Männer- von einem
      Frauengesicht unterscheiden: stärkere Nase und Brauen sowie ein breiteres
      Kinn beim Mann, dickere Backen sowie ein fleischigeres Kinnpolster bei der
      Frau. Weil auch ihre Augen größer erscheinen (dank der feineren Brauen),
      wirkten Frauengesichter kindlicher als Männergesichter, behaupten die
      Autoren. 
       
      Heute ist es möglich, die ohnehin fließenden Unterschiede noch weiter
      verfließen zu lassen: Dank moderner Bildverarbeitung lässt sich ein
      Frauengesicht Schritt für Schritt in ein Männergesicht verwandeln und
      umgekehrt – "Morphing" nennt man das. Am Max-Planck-Institut für
      biologische Kybernetik gelingt das neuerdings sogar in dreidimensionaler
      Form: Reale Köpfe werden mit einem Laser gescannt, allerdings ohne Haare
      (die Models tragen eine Badekappe). Die Daten werden gespeichert und
      daraus ein in alle Richtungen drehbarer, somit aus mehreren Perspektiven
      betrachtbarer (und manipulierbarer) Bildschirm-Doppelgänger konstruiert.
      Rund 200 solcher virtueller Köpfe, je zur Hälfte Frauen und Männer, hat
      Heinrich Bülthoff, einer der Institutsdirektoren, in einer Datenbank
      gesammelt. 
       
      Aus dieser Datenbank hat sich seine Frau Isabelle, eine Schweizer
      Biologin, bedient. Sechs Mann-Frau-Paare hat sie "gemorpht" und geprüft,
      wie Versuchspersonen die verschiedenen Zwischenstadien einschätzen
      (Abbildung unten): Gibt es da irgendwo einen gewaltigen Sprung zwischen Männlein
      und Weiblein? So etwa wie wir zwischen den Farben Rot und Orange oder den
      Lauten B und P an einer bestimmten Grenze scharf unterscheiden, auch wenn
      die physikalischen Unterschiede winzig sind? Man spricht in so einem Fall
      von "kategorischer Wahrnehmung". Für die Identität von Gesichtern (John
      oder Bob?) oder Gefühlsausdrücke (Angst oder Ärger?) ist eine solche
      kategorische Wahrnehmung schon bewiesen worden. 
       
      Isabelle Bülthoffs überraschender Befund: Das Geschlecht von Gesichtern
      wird ohne spezielles Training nicht kategorisch wahrgenommen! Zwar konnten
      sich ihre Versuchspersonen klar entscheiden, ob sie auf einem Einzelbild
      einen Mann oder eine Frau sehen. Wenn aber Bildpaare unterschieden werden
      sollten, die zwei oder drei Morphingschritte auseinander lagen, zeigte
      sich an keiner Stelle des Mann-Frau-Kontinuums der zu erwartende Sprung. "Das
      hatten wir nicht erwartet", kommentiert Bülthoff ihre Ergebnisse. "Aber
      offensichtlich ist das Geschlecht des Gesichts im Alltag nicht so wichtig."
      Andere Stimuli wie Haartracht, Kleidung, Figur, Bewegung und Stimme könnten
      für die Mann-Frau-Unterscheidung relevanter sein. 
       
      Mit derselben virtuellen Methode arbeitet in einem Nachbarbüro Barbara
      Knappmeyer. Die Biologin, die auch Mathematik studiert hat, will wissen,
      wie wichtig Gesichtsbewegungen für das Erkennen individueller Gesichter
      sind. Dazu hat sie die künstlichen Köpfe in ihrem Computer "animiert":
      Sie ließ reale Personen vor einer Videokamera eine Reihe von
      Gesichtsbewegungen vollführen (etwa Lächeln, Stirnrunzeln, Staunen,
      Kauen) und übertrug diese Grimassen dann mithilfe eines käuflichen
      Animationsprogramms auf virtuelle Gesichter (Abbildung unten). Auf diese
      Weise konnte sie beispielsweise ihr Modell "Stefan" mit der Mimik von "Lester"
      agieren lassen – oder einen Morph aus 50 Prozent Stefan und 50 Prozent
      Lester mal stefanisch und mal lesterianisch grimassieren lassen. 
       
      In einer Reihe von Wiedererkennungsexperimenten fand die Doktorandin
      heraus, dass neutrale Versuchspersonen sich ganz gewaltig durch die
      aufgepfropfte Mimik beeinflussen lassen. Stehen Form und Mimik eines
      Gesichts im Widerspruch, überwiegt zwar der Einfluss der Form. Aber die
      Mimik verschiebt die Kurven: Der 50-Prozent-Lester wird deutlich öfter für
      Lester gehalten, wenn er lesterianisch grinst und kaut, als wenn er dies
      auf die Art von Stefan tut. Selbst wenn die Gesichter auf den Kopf
      gestellt werden, bemerken die Versuchspersonen noch den mimischen
      Unterschied. "Gesichtsbewegungen sind also keine redundante Information für
      die Identität eines Gesichts", folgert Knappmeyer. Schauspieler und
      Kanzlerimitatoren scheinen das schon immer gewusst zu haben. 
       
      Doch wie verrechnet das Hirn die Informationen genau? Das weiß auch die
      Biomathematikerin nicht. "Die Forschungen der vergangenen 20 bis 30 Jahre
      haben zwar schon einige Fragen beantwortet, mit jeder beantworteten Frage
      aber mindestens zehn neue aufgeworfen", sagt Knappmeyer, die demnächst in
      New York weiterforschen wird. "Insofern ist das Rätsel der menschlichen
      Gesichtswahrnehmung noch längst nicht gelöst und bleibt weiterhin ein
      spannendes und faszinierendes Thema." 
      
         
      JUDITH RAUCH
       
      
      
         
      Literatur: 
      
      
      Vicki
      Bruce, Andy Young: In the eye of the beholder. The science of face
      perception. Oxford University Press, Oxford 1988 (gebunden) bzw. 2000
      (Paperback) 
      
      
      
        
         
        
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