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Christian
Keysers – Der Spiegelprinz
Er sieht aus wie ein Filmstar,
wurde mit 30 schon Professor und beschäftigt sich mit einem der
heißesten Gebiete der Hirnforschung: den Spiegelneuronen. Muss ein
solcher Mensch nicht unerträglich arrogant sein? Muss er nicht.
Sie fallen auf: Die beiden jungen Männer, die auf dem Nürnberger
Symposium über "Gehirn und Emotion“ die Köpfe zusammenstecken. Sie
sehen so anders aus als die anderen Doktoren, Professoren und Experten,
die hier herumlaufen. So jung. So schick, eloquent und selbstbewusst. Ist
das die Forschergarde von morgen? Kann Wissenschaft so trendy sein?
Der eine stellt sich als Journalist heraus: Bas Kast, um die 30 und
Wissenschaftsredakteur beim Berliner Tagesspiegel. Vor seinem aktuellen
Bestseller "Die Liebe und wie sich Leidenschaft erklärt“ hat er ein
anderes viel beachtetes Buch geschrieben: "Revolution im Kopf“, in dem
es um die Zukunft der Hirnforschung geht. Ein kenntnisreiches Buch. Die
Widmung lautet: "für Christian, das Genie“.
Christian, das Genie, das ist der andere junge Mann: Christian Keysers,
Psychologe, Hirnforscher, ebenfalls etwa 30 Jahre alt. Er wird auf dem
Symposium über Spiegelneuronen sprechen, sein Spezialgebiet. Das sind
sensationelle Hirnzellen, die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurden: Sie
funken ihre Signale nicht nur, wenn wir etwas Bestimmtes tun wollen oder fühlen,
sondern auch wenn wir die entsprechenden Handlungen oder Gefühle bei
anderen nur beobachten. "Mitgefühl – das ist in unseren Hirnzellen
verankert“, sagt der Psychologe. "Wir brauchen keine christliche
Erziehung dafür.“
Und er spaziert im Designer-Anzug über die Bühne, während er seine
Powerpoint-Präsentation an die Wand wirft, und mit den langen blonden
Haaren und dem modischen Ziegenbärtchen einem Filmstar gleicht.
Ein Star ist er bereits. Das Jugendmagazin "Neon“ habe Keysers zu
einem der 100 wichtigsten jungen Deutschen gekürt und ihn glattweg an die
dritte Stelle gesetzt, vermeldet Bas Kast wenig später in der
Podiumsdiskussion, die er moderiert. Er wirft seinem Schulfreund Christian
die Stichworte wie Bälle zu. Der fängt sie auf und spielt mit ihnen. Es
ist Samstag, der 11. Oktober 2003. Was für ein Auftritt!
Ein knappes halbes Jahr später. Christian Keysers holt mich ab, um mir
sein neues Labor zu zeigen: das Neuroimaging Centre der Universität
Groningen in den Niederlanden, an dem er seit 1. März 2004 eine
Arbeitsgruppe aufbaut. Keysers hat sein Fahrrad vor der Tür geparkt: ein
blitzblankes neues Hollandrad – "meine erste Anschaffung hier“.
Während er das Rad durch Straßen, Gassen und über eine Kanalbrücke
schiebt, kommt er ins Fachsimpeln. "Ob die Emotionen in unserem Gehirn
nach einem einheitlichen System funktionieren oder ob es verschiedene
Systeme für verschiedene Emotionen gibt, wir wissen es nicht“, sagt der
Psychologe. "Momentan sind die Ergebnisse noch zu widersprüchlich. In
der Wissenschaft muss man Geduld haben.“ Geduld? Das ist ja nun das
Letzte, was ich von diesem jungen Überflieger erwartet hätte. Ich
beginne mein Bild von Christian Keysers zu revidieren.
Im Institut, einem frisch renovierten Altbau der medizinischen Fakultät,
erwartet mich der fMRI-Scanner, der Stolz des Hauses. Die Abkürzung steht
für "functional Magnetic Resonance Imaging“ – funktionelle
Kernspintomographie. "Um Ihren Kopf herum wird ein starkes Magnetfeld
aufgebaut, das die Atome in Ihrem Körper zum Umklappen bringt“, erklärt
mir Keysers vereinfachend das Prinzip. "Dabei messen wir einen kleinen
Unterschied zwischen dem Hämoglobin des frischen und des verbrauchten
Bluts. Wir werden nachher sehen, in welchen Hirnteilen Sie bei bestimmten
Aufgaben besonders viel Sauerstoff verbrauchen.“
Sie wollen mir also ins Gehirn schauen, die beiden Forscher. Ich bewege
auf Kommando Finger, Zehen oder Zunge, während ich auf einer Pritsche
liege, den Kopf festgeklemmt, die Ohren verstopft. Um mich herum ein gedämpftes
Klopfen, Schrillen, Summen und Stampfen – Geräusche, die entstehen,
wenn die Magnetfelder erzeugt und reguliert werden. Nun klappen also in
meinen Adern die Atome um – fast ist mir, als könnte ich das spüren.
Mit derselben Methode sollen hier Psychopathen untersucht werden, erklärt
mir Christian Keysers später: "Menschen, die nichts empfinden, wenn sie
einen anderen verletzen. Wir wollen herausfinden, ob es vielleicht an
ihren Spiegelneuronen liegt.“
Ein Defekt im Mitgefühl-System, das uns die Natur mitgegeben hat und das
doch nicht fehlerlos zu funktionieren scheint? "So ist es.“ Der junge
Psychologe interessiert sich zwar mehr für die Grundlagenforschung,
findet es aber "aufregend, wenn man dieses Wissen auf Patienten übertragen
kann“.
Wie ist er überhaupt auf die Hirnforschung gekommen? Zufällig. "In der
Schule fühlte ich mich zu Physik, Philosophie und Mathematik
hingezogen“, sagt Keysers. "Es fiel mir schwer, eine Entscheidung zu
treffen.“ Durch ein Versehen der ZVS, der Zentralstelle für die Vergabe
von Studienplätzen, fand er sich plötzlich im Diplomstudiengang
Psychologie in Konstanz wieder statt als Philosophie-Student mit Nebenfach
Psychologie, wie eigentlich geplant.
Doch Keysers vermisste die Philosophie nicht lange. "In Konstanz war das
Psychologiestudium sehr naturwissenschaftlich orientiert. Wir machten zum
Beispiel Lernexperimente an der Meerschnecke Aplysia. Im Gegensatz zu den
meisten Kommilitonen hat mich das sehr fasziniert.“
Noch durch etwas anderes unterschied er sich von seinen Mitstudenten:
seine Zielstrebigkeit. Der junge Mann, Sohn eines deutsch-französischen
Vaters und einer deutschen Mutter, in Belgien geboren, als Kind mehrfach
umgezogen, bewarb sich nach dem Grundstudium um ein Auslandsstipendium –
und bekam es. In Boston, Massachusetts, sah er sich zehn Monate lang in
drei renommierten Labors um und beschäftigte sich mit den Nervenzellen
von Küchenschaben ebenso wie mit Künstlicher Intelligenz und dem
Sehsystem von Affen. "Danach wusste ich, dass mir die wissenschaftliche
Arbeit gefällt.“
Zurück in Deutschland, meldete er sich bei Prof. Onur Güntürkün in
Bochum für die Diplomarbeit an (Porträt in bild der wissenschaft
09/2004, "Das Glückskind“). Den in der Türkei geborenen Psychologen
kennt Keysers aus Konstanz. Das Dumme war nur: "Ich war der einzige
Elektrophysiologe in der Abteilung. Tag und Nacht habe ich gearbeitet, um
die Apparate in Gang zu bringen.“ Seine Diplomarbeit über Asymmetrien
im Hirn der Taube wurde mit "sehr gut“ bewertet.
Nächste Station war St. Andrews in Schottland. Im Labor von David Perrett,
einem Pionier der Gesichterforschung, wurden außer Menschen auch Makaken
untersucht. Bas Kast, der treue Kamerad aus der Schulzeit, besuchte
Keysers dort und berichtete danach im Wochenblatt "Die Zeit“: "In
das Gehirn des Affen haben die Forscher hauchdünne Elektroden
eingepflanzt. Kabel führen zu einer Batterie von Messinstrumenten. Links
steht der junge Mann und präsentiert dem Affen ein angestrengtes
Pantomimenspiel: Er hebt seinen Arm, sein Bein, den anderen Arm, er dreht
den Kopf, legt sich hin, er kriecht, hüpft, springt, dann dreht er sich
um und versteckt sich.“
Ziel des Affentheaters: In höheren visuellen Zentren der Affen Zellen zu
finden, die nur auf ganz spezielle Reize reagieren. "Da gibt es eine
Zelle, die sagt dem Tier: Da schaut mich jemand an. Wenn ich an dem Affen
vorbeischaue, reagiert sie nicht mehr.“
Keysers demonstriert es. Er blickt mich an, dreht mir dann das spitznasige
Profil zu, dann wieder das Gesicht. Der junge Mann scheint die Spiegelung
zu genießen.
"In dieser Zeit las ich erstmals etwas über die Experimente mit
Spiegelneuronen“, sagt Keysers wie auf ein Stichwort hin. Im
italienischen Parma wurden sie entdeckt, im Frühjahr 1991 und durch einen
Zufall. Vittorio Gallese, damals im Hauptberuf Gefängnisarzt und nur
nebenberuflich Wissenschaftler, hatte zusammen mit einem Kollegen im prämotorischen
Kortex – dem Aktionsplanungszentrum – eines Makaken nach Zellen
gesucht, die dem Affen helfen, einen bestimmten Fingergriff zu planen: den
spitzen Präzisionsgriff, mit dem man beispielsweise eine Rosine fasst.
Aber das Neuron, in dem die Elektrode steckte, feuerte bereits, als der
Forscher erst nach der Rosine griff.
Wie eigenartig: Eine Hirnregion, die mit dem Sehen nicht das Geringste zu
tun hat, reagiert auf einen visuellen Reiz. Kein Wunder, dass selbst der
Laborleiter, Prof. Giacomo Rizzolatti, zunächst skeptisch war. Die ganze
Fachwelt verharrte in Unglauben. Und erst 2001, zehn Jahre nach ihrer
Entdeckung, wurde die Existenz der Spiegelneuronen einer breiteren Öffentlichkeit
bekannt.
Christian Keysers, frisch promoviert, ging im September 2000 nach
Parma. Nicht nur der Spiegelneuronen, sondern auch der Liebe wegen. Die
Beziehung zu der Italienerin zerbrach kurz darauf, doch die
Wissenschaft machte Fortschritte. Vittorio Gallese begeistert sich: "Er
ist wahrscheinlich der beste junge Neurowissenschaftler, mit dem ich je
zusammenarbeiten durfte.“ Der junge Deutsche brachte – wie
er sich selbst lobt – quantitatives Denken ins eher qualitativ
orientierte italienische Labor mit: "Ich wollte eine kritischere
Versuchsanordnung. Vielleicht, weil ich mich erst selbst
überzeugen musste, dass es die sagenhaften Spiegelneuronen
wirklich gibt.“ Und bald fand er sie überall. Nicht nur in
motorischen Zentren, sondern auch in sensorischen. Beispielsweise in
der Insula, mit der Affen und Menschen Gerüche und
Geschmäcker deuten. "Ob ich selbst Ekel empfinde oder ob ich ein
angeekeltes Gesicht sehe – für diese Zellen ist es das
Gleiche“, sagt Christian Keysers. Zusammen mit Bruno Wicker aus
Marseille hat er die Basis des Mitgefühls mit einem fMRI-Scanner
sichtbar gemacht.
Gallese vermutet, dass die Spiegelneuronen den Primaten helfen, die
Handlungen und Absichten anderer zu verstehen, indem sie diese im eigenen
Kopf simulieren ("Als ob“-Handlungen) – und manchmal auch tatsächlich
imitieren, etwa beim Lachen oder Gähnen. Dasselbe Prinzip, nämlich
Verstehen durch Mitempfinden, scheint aber nicht nur für Handlungen,
sondern auch für Gefühle (Ekel) und Sinneseindrücke (Berührung) zu
gelten, wie die Experimente von Christian Keysers gezeigt haben.
Schon greifen nicht nur Neurologen und Psychologen, sondern auch
Soziologen und Pädagogen begierig nach den Aufsätzen über die
Siegelneuronen. Auch in Deutschland entwickeln sie eigene
Forschungsprojekte. Und Christian Keysers, der öffentliche Auftritte
genießt, baut immer häufiger das Stichwort "soziale Wahrnehmung“ in
die Titel seiner Vorträge ein. "Neulich sprach ich vor
Psychotherapeuten“, sagt er. "Sie fühlten sich bestätigt. Denn
intuitiv hatten sie schon immer angenommen, dass sie die Gefühle ihrer
Patienten besser nachempfinden können, wenn sie deren Körperhaltung
imitieren.“
Sind unsere Spiegelzellen also im Grunde soziale Zellen? Sind sie uns
angeboren, damit wir die Gefühle und Absichten anderer erkennen
können? "So weit würde ich nicht gehen“, sagt Christian
Keysers. "Ich nehme an, dass die Spiegelzellen zunächst dazu
dienten, unsere eigenen Handlungen zu beobachten und zu kontrollieren.
Erst später wurde das Prinzip verallgemeinert.“
"Wenn Sie hier über den Tisch schauen“, fordert mich Christian
Keysers auf, "dann entstehen alle möglichen Handlungsabsichten in Ihrem
Kopf. Die meisten werden Sie aber mit Ihrem präfrontalen Kortex unterdrücken.“
Tatsächlich, jetzt wird es mir bewusst: Vielleicht sollte ich diese
beiden Teepäckchen öffnen und nachsehen, ob noch Teebeutel darin sind?
Und was mag in dem Brief stehen, der an Valeria Gazzola gerichtet ist?
Doch mein präfrontaler Kortex unterdrückt meine Neugier. Das ist auch
besser so.
Denn Valeria Gazzola sitzt hinter meinem Rücken, während ich mich mit
Christian Keysers unterhalte. Der junge Professor hat sie mir stolz als
seine Doktorandin vorgestellt – und als seine Frau. Sie kennen sich aus
einem Kletterkurs, haben ein Jahr lang gemeinsam in Parma geforscht, und
im Januar haben sie geheiratet.
Gazzola forscht über Berührungen. Ihre Arbeit am fMRI-Scanner
mit Keysers und weiteren Kollegen zeigt, dass es auch in den
Berührungszentren des Menschen ein Spiegel-System zu geben
scheint. Und das Verrückte ist: "Diese Zentren sind nicht nur
aktiv, wenn wir sehen, wie ein anderer Mensch berührt wird,
sondern sogar, wenn sich Dinge berühren!“ Gazzola und
Keysers können sich gar nicht genug wundern.
Macht unser Hirn keinen Unterschied zwischen belebten und unbelebten
Objekten? Wie es aussieht, gibt es noch viel zu entdecken für das junge
Forscherpaar.
Was er sich von der Zukunft erhofft? Keysers gibt sich wieder überraschend
bescheiden: "Es würde mir Spaß machen, noch weiter kreativ zu sein. Ab
und zu etwas Neues zu finden, auch wenn sich das nicht planen lässt.“
Und privat? "Das Wichtigste habe ich schon gefunden, meine Frau. Kinder
stehen auf der Wunschliste.“ Wir dürfen uns also Christian Keysers als
glücklichen Menschen vorstellen. "Ja!“, sagt er.
Und schenkt mir ein Lächeln, das sämtliche Siegelneuronen erzittern lässt.
Kompakt
Am 27. Juni 1973 geboren, wächst Christian Keysers im französischsprachigen
Belgien auf.
1987-1991 prägende Jahre auf der Europäischen
Schule München.
1991-1997 Studium der Psychologie sowie Promotion in
Konstanz, Boston (USA) Bochum, St. Andrews (Schottland).
2000-2004 Forschung in Parma (Italien). Er entdeckt
die Rolle der Spiegelneuronen bei im Berührungen und Ekel.
Seit 2004
Forschungsprofessur in Groningen (Niederlande)
Hobbys: Christian Keysers kocht, klettert und segelt gerne.
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