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Fortschritt:
"Wir
müssen in bestimmtem Umfang Risiken auf uns nehmen"
Der Soziologe Michael Zwick über
Technikängste und Politikverdrossenheit
Psychologie
heute: Herr Zwick, Sie haben zusammen mit Kollegen
festgestellt, dass die Abwägung von Nutzen und Risiko bei der Bewertung
einer Technik nicht die einzige Dimension ist. Welche Gefühle löst
Technik aus?
Michael Zwick: Da muss man zunächst die Techniken unterscheiden und in
mindestens drei Klassen einteilen. Klasse eins ist die Alltags-,
Haushalts-, Freizeit- und Produkttechnik. Niemand hat etwas gegen
Hi-Fi-Anlagen, Waschmaschinen, Gefrierschränke und dergleichen. Im
Gegenteil: Diese Geräte haben das Leben der Menschen sehr erleichtert.
Viele lösen regelrecht Freude aus. Man kann mit dem Computer spielen. Man
kann mit dem Auto oder dem Handy Status und Prestige demonstrieren. Es
gibt Technik, die zeigt, dass man in ist, und Technik, die großen Nutzen
hat. Ich freue mich zum Beispiel jeden Abend, wenn ich die Geschirrspülmaschine
anwerfe.
PH: Also keine Akzeptanzprobleme bei der Alltagstechnik?
Zwick: Nein. Deutschland ist wie kaum ein anderes Land auf der Welt mit
diesen Produkten ausgestattet. Von Technikfeindlichkeit kann hier überhaupt
keine Rede sein. Die Leute mögen diese Technik, sehen den Nutzen und
kaufen sie. Klasse zwei ist die Technik im Arbeitsleben. Da kann es schon
eher Widerstände geben. Ich denke an den Computer in den 80er Jahren.
Damals spielte auch die Risikokommunikation eine Rolle. Die Gewerkschaften
hatten viele Gegenargumente: Die Monitore strahlen. Die grünen
Bildschirme schaden den Augen. Der Rücken leidet. Die Arbeit wird
monoton. Die Beschäftigten werden dequalifiziert. Und: Wird der Computer
nicht unsere Jobs killen? Die Ängste waren nicht nur direkt auf die
Technik bezogen, sondern auch auf die Technikfolgen. Alles in allem werden
aber neue Techniken im Arbeitsleben nach einer gewissen Zeit sehr positiv
aufgenommen. Wir sind da im europäischen Vergleich nicht negativer
eingestellt als andere Nationen. Aber es dauert manchmal etwas länger,
bis sich der Deutsche an neue Techniken gewöhnt.
PH: Was ist mit Kernenergie und Gentechnik?
Zwick: Die gehören zur Klasse drei, und da wird es mit den Emotionen
interessanter: Technik, die als Groß- und Risikotechnik wahrgenommen
wird. Aber auch hier muss man unterscheiden: Solaranlagen und Windparks
lassen sich als Großtechnik planen, werden aber als "weiche Technik"
wahrgenommen. Fast 98 Prozent der Deutschen befürworten die Sonnen- und
die Windenergie. Hier findet man allenfalls örtlich so etwas wie lokalen
Betroffenheitsaktivismus nach dem Muster des NIMBY-Syndroms: not in my
back yard! Zu Deutsch: Umweltverträgliche Technik ja, aber bitte nicht in
meinem Hinterhof! Da wird dann zum Beispiel die "Verspargelung der
Landschaft" durch Windkraftanlagen befürchtet.
Bei den Großtechniken, die als Risikotechniken eingestuft werden, spielt
Angst eine große Rolle. Vor der Kernenergie haben unserer Studie zufolge
48 Prozent der Männer und 74 Prozent der Frauen Angst. Bei der
Gentechnologie sieht es ähnlich aus: 38 Prozent der Männer und 64
Prozent der Frauen haben Angst.
PH: Angst vor was?
Zwick: Bei der Kernenergie ist ein klassischer Fall: Die Leute haben Angst
davor, bei Störfällen um ihre Gesundheit oder gar um ihr Leben gebracht
zu werden. Bei der Gentechnik ist es etwas ganz anderes: Da erstreckt sich
die Angst fast nie auf das technische Risiko, sondern auf soziale Gefährdungen.
In qualitativen Interviews wird immer wieder gesagt: Wir haben Angst vor
Übergriffen der Wissenschaft, vor dem Designen und Klonen menschlichen
Lebens. Angst, dass Arbeitgeber oder Versicherungen die Gentechnik
missbrauchen könnten. Oder dass Menschen mit einem Gendefekt keine
Lebensversicherung mehr bekommen. Dass die Toleranz gegenüber Behinderten
zurückgeht. Dass Eltern Schuld zugeschrieben wird, weil sie solches Leben
zugelassen haben. Die Menschen haben Angst vor einer neuen Eugenik. Nicht
wenige der Befragten fühlen sich mit Grausen an die Verhältnisse im
Dritten Reich erinnert.
In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit gibt es bei Wissenschaft und
Forschung keine Kontrolle und kein Halten. Was hierzulande verboten ist,
wird woanders gemacht und breitet sich von dort aus. Die Globalisierung
droht gewohnte Standards außer Kraft zu setzen.
PH: Und doch wird die "rote Gentechnik", also die medizinische
Anwendung, nicht nur negativ gesehen.
Zwick: Richtig. Viele Menschen verbinden damit regelrecht euphorische
Hoffnungen, zum Beispiel die Aussicht, Aids und Krebs heilen zu können.
Dabei unterscheiden sie klar zwischen der Gentechnik am erwachsenen
Menschen, der autonom entscheiden kann, ob er eine Therapie zulässt oder
nicht, und der pränatalen Anwendung: Embryonen können sich nicht wehren!
PH: Und was ist mit der "grünen Gentechnik"? Lebensmittel aus genverändertem
Mais oder Soja sind ja äußerst unpopulär und werden nicht gekauft.
Warum nicht?
Zwick: Auch hier sehen die Verbraucher im Grunde genommen nicht so sehr das
gesundheitliche oder ökologische, sondern ein soziales Risiko: dass die
Autonomie des Verbrauchers untergraben wird, wenn Lebensmittel nicht oder
nicht ausreichend gekennzeichnet werden. Außerdem wird diesem
Anwendungsfeld der Sinn und Nutzen abgesprochen; wir leben schließlich
auf einem Kontinent, der eher durch Überernährung als durch Mangel
gekennzeichnet ist. Der Vorteil, der dem Produzenten, dem Groß- oder
Einzelhandel entsteht, ist dem Konsumenten egal. Dass die Tomaten außen
prall und innen zermatscht sind und nach drei Wochen immer noch im Regal
liegen, quittiert der Verbraucher eher als Betrug.
PH: Die meisten Vorbehalte beruhen offensichtlich auf ethischen
Werturteilen, auf Werten, die den Menschen wichtig sind, wie Toleranz,
Solidarität, Autonomie…
Zwick:…Fairness, Gerechtigkeit, auch Verteilungsgerechtigkeit zwischen
Nutzen und Risiken.
PH: Die Menschen haben also Angst, dass Wissenschaftler und Industrie gegen
die Werte der Gesellschaft verstoßen könnten.
Zwick: Richtig. Und damit sind häufig Emotionen verbunden. Wir leben in
einer Gesellschaft, die mit einem Nullrisiko nicht auskommen kann. Da müssten
wir alle verhungern. Wir brauchen Technik und müssen in bestimmtem Umfang
ihre Risiken auf uns nehmen. Die Frage ist: welche Techniken? Und welche
Risiken erscheinen den Menschen akzeptabel?
Die Öffentlichkeit achtet sehr darauf, wie eine Großtechnik eingeführt
und wie ihre Risiken kommuniziert werden. Dabei sind die Schlüsselvariablen
Glaubwürdigkeit, Vertrauen, Offenheit und Fairness. In den vergangenen
Dekaden sind Großtechniken oftmals hinter dem Rücken der Bevölkerung
eingeführt worden. Mit ein wenig PR wurde dann versucht, die Wogen wieder
zu glätten. Diese Strategie war kurzfristig sogar erfolgreich. Auf die
Dauer aber hat sie das Vertrauen in Großtechniken nachhaltig zerrüttet.
PH: Woher wissen Sie das?
Zwick: Das stellt man fest, wenn man heute irgendein großtechnisches
Projekt zu etablieren versucht, also Anlagen aus der Kerntechnik, der
Gentechnik, der Chemie, der Abfallwirtschaft oder der Rüstungsindustrie.
Solche Anlagen stoßen zumeist auf heftige Widerstände.
Wir haben das auch bei unserer Umfrage für die Studie Wahrnehmung und
Bewertung von Technik in Baden-Württemberg erhoben. Wir fragten: Was würden
Sie tun, wenn Sie mit der Entscheidung, dass so eine Anlage bei Ihnen
gebaut wird, nicht einverstanden wären? Nur 18 Prozent würden dagegen
nichts unternehmen. 80 Prozent würden sich an einer Unterschriftenaktion
beteiligen, 78 Prozent an einer Bürgerversammlung, 64 Prozent an einer
genehmigten Demo teilnehmen, und 50 Prozent würden bei einer Bürgerinitiative
mitmachen. Zu prozessieren ziehen 33 Prozent in Erwägung.
Und auch unkonventionelles Protestpotenzial wird laut: An einer
ungenehmigten Demo teilzunehmen, ziehen 22 Prozent in Betracht; den
Bauplatz zu besetzen, zwölf Prozent; Bauarbeiter zu behindern, acht
Prozent, und Maschinen zu zerstören, drei Prozent.
PH: Donnerwetter! Ganz schön radikal!
Zwick: Also: Wer heute versucht, eine Technik einzuführen oder ein Großprojekt
aufzuziehen, ohne die Bürger fair, offen und rechtzeitig zu beteiligen,
sie von dem Nutzen zu überzeugen und davon, dass mit den Risiken sorgfältig
umgegangen wird – mit anderen Worten: Vertrauen aufzubauen –, der muss
mit einer Blockadehaltung rechnen, wie man sie in jüngerer Zeit mehrfach
kennen gelernt hat.
PH: Die Kernenergie, die wohl die heftigsten Proteste ausgelöst hat, ist
ja nun auf dem Rückzug. Kann es sein, dass diese Technik nicht wegen
ihrer inhärenten Risiken abtreten musste, sondern weil Fehler bei ihrer
Einführung gemacht wurden?
Zwick: Wenn man auf die Daten schaut, hat die Mehrheit der Leute Angst vor
dem Katastrophenpotenzial der Kernenergie. Sie hat in zweiter Linie
Bedenken bezüglich der Lagerung radioaktiver Abfälle. Selbst wenn heute
alle Kernkraftwerke stillgelegt werden, ist das Problem der Abfälle noch
Jahrtausende lang virulent.
PH: Also liegt es doch an den Risiken?
Zwick: Zum einen an den Risiken. Zum anderen aber auch an der Frage: Wie
wird mit Kernkraft umgegangen? Tschernobyl war für die deutsche Öffentlichkeit
ein schwerer Schock, aber noch nicht das Aus für die deutsche Kernkraft.
Der Unfall war in der Sowjetunion geschehen, nicht bei uns.
Größer war der Schock, als Ende 1987 der Hanauer Plutoniumskandal ans
Licht kam. (Anm. d. Red.: Damals kam heraus, dass bei Atommülltransporten
im Auftrag der Hanauer Firma Transnuklear statt der deklarierten schwach
radioaktiven Abfälle Plutonium quer durch Europa transportiert worden
war.) Hanau hat in den Augen der Öffentlichkeit den Nimbus zerstört,
dass hierzulande mit Kerntechnik und Spaltmaterial besonders sorgfältig
umgegangen wird.
Die Einstellungen der Bevölkerung zur Kerntechnik haben sich von dem
Doppelschlag Tschernobyl und Hanau bis heute nicht wieder erholt. Überhaupt
ist die Bewertung von Technik nichts Kurzfristiges, sondern tief in den
Einstellungen und Werthaltungen der Bürger verankert. Am Bild der
Kernenergie wird sich daher in absehbarer Zeit nichts Grundlegendes ändern.
PH: Halten Sie ein Comeback der Kernenergie also für ausgeschlossen?
Zwick: Richtig. Tschernobyl und Hanau haben zu einer dauerhaften
Stigmatisierung dieser Technik geführt.
PH: Was würden Sie denn für die Gentechnik prognostizieren?
Zwick: Momentan sind die Einstellungen der Bevölkerung zur Gentechnik sehr
gespalten, sehr ambivalent. Wenn man die bisherige Haltung in die Zukunft
weiterdenkt, sind zwei Entwicklungen zu erwarten: Bei der roten,
medizinischen Gentechnik wird es sehr große Akzeptanz geben. Denn auf die
Beseitigung von lebensbedrohlichen Krankheiten setzt die Bevölkerung große
Hoffnungen. Die Begeisterung könnte allerdings gedämpft werden, wenn in
einigen Jahren keine Erfolge erzielt werden.
Bei der grünen Gentechnik könnte es den Produzenten vielleicht gelingen,
etwas Interessantes anzubieten. Ich fantasiere jetzt einmal: Fett, das
nicht fett macht. Oder einen Apfel, der gut ist gegen Falten. Ich könnte
mir vorstellen, dass viele Leute davon begeistert wären und das kaufen würden.
Wenn es allerdings dabei bleiben sollte, dass Nahrungsmittel ohne
erkennbaren Nutzen für den Verbraucher verändert werden, wenn sie außerdem
nicht gekennzeichnet sein sollten, dann wird den Produzenten weiterhin
eine Woge der Ablehnung entgegenrollen.
PH: Die Industrie hat es derzeit schwer, Vertrauen zu finden. Sie haben
festgestellt, dass der Industrie in Risikofragen gerade einmal 17 Prozent
der Bevölkerung glauben, also ungefähr ein Sechstel. Der Politik glauben
20 Prozent, ein Fünftel.
Zwick: Das ist vielleicht einer unserer wichtigsten Befunde. Die Befragten
sind in ihrer Mehrzahl weder technikfeindlich noch risikoscheu. Aber Teile
der Öffentlichkeit sind verdrossen darüber, wie in Technik- und
Risikofragen mit ihnen umgegangen wird. Das unterstreicht die Bedeutung
einer gelungenen Risikokommunikation. Und zwar nicht nur als bloße PR-Maßnahme,
sondern als faires Angebot zur Mitbestimmung. Industrie und Politik
sollten in einen echten Dialog mit den Bürgern eintreten und ihnen schon
klar machen, dass man weder auf innovative Technik noch auf Risiko
verzichten kann. Aber sie sollten sich auch Zugeständnisse abhandeln
lassen und Antworten geben: Wie hoch und wie zahlreich sind die Risiken?
Welche Kontrollen finden statt? Ziel muss sein, in einem offenen Diskurs
ein faires Arrangement auszuhandeln.
PH: Und Sie meinen, da ist noch Boden gutzumachen?
Zwick: Das ist ein langfristiger und aufwändiger Prozess. Und er ist vom
Ergebnis her offen. Er kann auch dazu führen, dass bestimmte Techniken
oder Anwendungsfelder aufgegeben werden müssen. Wie gesagt, ich glaube
nicht, dass bei der Kerntechnik noch Boden gutzumachen ist. Aber bei
anderen Technologien durchaus.
PH: Wie kann das aussehen?
Zwick: Es gibt in Deutschland den so genannten "Bulldozereffekt". Der Bürger
hört: Da soll es irgendwo ein großes Projekt geben. Na ja, es wird schon
nicht so schlimm kommen, denkt er sich, warten wir mal. Und irgendwann
kommen die Bulldozer, um den Baugrund auszuheben. Dann wird womöglich der
Aufstand geprobt, der Bauplatz besetzt, und im schlimmsten Fall werden die
Maschinen demoliert. In dem Moment ist es zu spät. Dann sind die Fronten
so verhärtet, dass Blockade droht. Man muss schon ein paar Monate oder
Jahre früher miteinander reden.
PH: Sie begleiten solche Dialoge.
Zwick: Ja, die Akademie für Technikfolgenabschätzung bietet runde Tische,
Mediations- und Moderationsverfahren an, die zwar nicht in jedem Fall,
aber in vielen Fällen zum Erfolg führen.
PH: Können Sie ein Beispiel nennen?
Zwick: Nach einer neuen Richtlinie darf Müll nicht mehr exportiert werden,
sondern muss vor Ort entsorgt werden. In Diskussionsrunden vor Ort, so
genannten Beteiligungsverfahren, geht es dann zum Beispiel um die Wahl des
Verfahrens der Müllentsorgung, um die Größe der projektierten Anlagen,
um die Standorte, die Infrastruktur, die man dazu braucht. Und natürlich
um die direkten und indirekten Gefährdungen: Boden-, Luft- oder
Wasserverschmutzung, die Verschandelung der Landschaft. Dass Wohneigentum
an Wert verliert. Oder dass Zu- und Abfahrtswege gebaut werden und
Belastungen bringen. Das Beispiel des Beteiligungsverfahrens
Nordschwarzwald zeigt, dass Bürger durchaus zu vernünftigen Kompromissen
fähig sind. Was aber oftmals nicht funktioniert, ist die politische Berücksichtigung
des Bürgerwillens. Die Bürger machen das dann genau ein Mal mit. Ein
zweites Mal kann man sie für einen solchen strapaziösen Prozess, in dem
sie auch Freizeit opfern müssen, wohl nicht mehr gewinnen.
Wenn wir schon über Politikverdrossenheit sprechen: Hier könnte die
Politik aufholen. Das würde aber bedeuten, dass die Politiker ein klein
wenig von ihrer Macht an die Öffentlichkeit abgeben. Vor allem bei
Projekten, in denen es Direktbetroffene gibt. Diese in die
Entscheidungsprozesse einzubeziehen wäre fair, legitim und vielleicht
auch für das politische System ein Erfolg.
INTERVIEW: JUDITH RAUCH
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Michael
Zwick
Dr.
Michael Zwick hat Soziologie und Sozialpsychologie studiert. Er arbeitet
an der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg und
lehrt an der Universität Stuttgart. Der Experte für Risiko- und
Technikwahrnehmung hütet in seinem Computer eine große
Katastrophendatenbank.
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