Judith Rauch schreibt: VDI nachrichten, 5. Oktober 2001

Biotechnologie: Chirurg Björn Stark hat an der Freiburger Universitätsklinik ein weltweit anerkanntes Zentrum für Gewebezüchtung, "Tissue Engineering" etabliert

Gewebe aus der Retorte

Selten ist Medizin so medientauglich. "Haut aus der Tube", "Gelenk aus der Retorte" oder "Die Ohrmacher von Freiburg" – so lauteten in den letzten Jahren die Schlagzeilen. Und immer steckt derselbe Mann dahinter: der Chirurg Björn Stark aus Freiburg. Er hat im Schwarzwald ein Biotechnologie-Imperium aufgebaut, das auf Gewebezucht basiert. Das Schöne: Stammzellen von Embryonen braucht er dafür nicht!

Am Anfang war die Haut. Wenn Prof. Björn Stark, Ärztlicher Direktor der Abteilung Plastische und Handchirurgie an der Universitätsklinik Freiburg, erzählen soll, wie alles angefangen hat, kommt er auf seine Zeit in Köln-Merheim zu sprechen. Von 1990 bis 1993 war der heute 43-Jährige dort Oberarzt an einem Schwerstverbrannten-Zentrum. Er versuchte Menschen zusammenzuflicken, denen ein Feuer oder eine Explosion große Teile ihrer Haut weggebrannt hatte. Stark war nicht zufrieden mit den Heilmethoden, die ihm zur Verfügung standen.

Zwar gibt es synthetische Materialien, mit denen Ärzte Wunden vorübergehend decken und vor Infektionen schützen können. Aber sie sind ebenso wenig eine Dauerlösung wie transplantierte Leichenhaut von freiwilligen Organspendern. "Fremdgewebe wird früher oder später abgestoßen", erläutert Stark. "Und wenn wir Eigenhaut verpflanzen, müssen wir sie dem Patienten an anderer Stelle wegnehmen. Schwerstverbrannte haben gar nicht genug gesunde Haut dafür."

Also Hautzellen des Patienten im Labor vermehren? Darauf waren schon andere gekommen. Mühsam, innerhalb von vier Wochen, wuchsen auf dem Boden von Kulturflaschen pflastergroße "sheet grafts" heran, künstliche Häute, "dünn wie eine Zwiebelhaut", sagt Stark, die nur schlecht einheilten. Stark hatte eine bessere Idee: "Nicht eine fertige Haut zu verpflanzen, sondern eine Suspension von Einzelzellen in Fibrin. Und zwar teilungsfähige, biologisch noch aktive Zellen." Und warum Fibrin? "Fibrin bildet der Körper selbst bei jeder Wundheilung. Es ist sozusagen der Klebstoff der Natur", sagt der Chirurg.

Stark testete die "Haut aus der Tube" 1991 zum ersten Mal an einem jungen Mann, der 88 % seiner Haut verloren hatte: Ihm entnahm er ein gesundes Hautstückchen, isolierte die Keratozyten (Zellen der Oberhaut) und überließ sie in einer Nährlösung, unterstützt von Wachstumsfaktoren, der Vermehrung im Brutschrank. Die neuen Zellen bettete er in den Fibrinkleber ein und trug die Paste aus einer Spritze auf die gesäuberten Wunden des Patienten auf. Der überlebte, die Wunden vernarbten schneller als gewöhnlich, Arzt und Patient waren froh.

Heute ist die "Haut aus der Tube" ein Routine-Heilverfahren. Allerdings nicht in der Verbrennungsmedizin, in der sie sich nicht so durchsetzen konnte, wie ihr Erfinder gehofft hatte. Doch bei chronischen Wunden wird sie mehr und mehr angewandt. Betroffen davon sind, wie Stark weiß, "rund 2 Mio. Patienten in Deutschland, meist ältere Leute mit chronisch-venösen Geschwüren, Diabetes oder arteriellen Durchblutungsstörungen. Menschen, deren "offene Beine" manchmal bis zu 20 Jahre lang mit Salben und Verbänden versorgt werden mussten, können plötzlich geheilt werden.

Das wäre sicher ein Grund stolz zu sein! Doch wenn Björn Stark stolz ist, so merkt man es ihm kaum an. Der Freiburger Chirurg ist ein unscheinbarer Mann, der mit leiser Stimme spricht; vom Auftreten her eher ein tüfteliger Ingenieur-Typ, kein Halbgott in Weiß.

Bald erkannte Stark, das, was mit Haut geht, auch mit anderen Geweben funktionieren könnte: Knorpel z.B., für neue Ohren. Oder Knochen. Muskeln. Fett. Blutgefäße. Aber auch Sehnen und Faszien, ganze Harnröhren und periphere Nerven.

An all diesen Geweben forschen heute 15 bis 20 Doktoranden, die Stark – nach dem Motto "mach mal" – gerne frei experimentieren lässt. Und zwar in den Labors des neuen Gebäudes für zentrale klinische Forschung in Freiburg, wo ihnen teure Mikroskope, keimfreie Arbeitsbänke und ein paar kühlschrankgroße Brutschränke für die Anzucht der Zellen zur Verfügung stehen. Viel mehr Equipment brauchen sie nicht, denn die Hauptarbeit – Wachsen und sich Teilen – besorgen die Zellen selbst, die in ihren kleinen oder großen eckigen Flaschen in einer geheimnisvoll rot schimmernden Flüssigkeit schwimmen.

Dr. Ulrich Kneser ist als Forschungsleiter Herr des emsigen Geschehens. Der schlanke Brillenträger ist erst 28 und hat schon als Medizinstudent in Hamburg an der Züchtung von Leberzellen mitgeforscht. Gewebezüchtung, Tissue Engineering, wie es amerikanisch heißt, fasziniert ihn, auch wenn er meint, dass man noch ganz am Anfang steht: "Mit der Haut sind wir jetzt so weit, wie man 1915 mit den Autos war. Es funktioniert. Aber es gibt noch so viel zu perfektionieren!"

Justus Beier, 25, hat sich für seine medizinische Doktorarbeit viel vorgenommen: Er möchte Vorläuferzellen menschlicher Muskeln dazu bringen, dass sie sich zu Muskelzellen ausdifferenzieren, ohne dass sie von einer Nervenzelle einen Reiz dazu erhalten. Wie soll das gehen? Beier versucht es mit Gentransfer. Er schleust das Gen für einen Wachstumsfaktor mit Hilfe von Bakterien-DNA in die Vorläuferzellen ein. Aber ist das nicht gefährlich, transgenes Muskelgewebe in einen Menschen zurück zu pflanzen? Kann es nicht zu unkontrolliertem Muskelwachstum, gar einem Monster-Schwarzenegger kommen? "Diese Gene und ihre Produkte werden schnell wieder abgebaut", beruhigt Beier.

Doch es geht beängstigend schnell voran im Tissue Engineering, und Freiburg ist eines der wichtigsten Zentren dieser Technologie auf der Welt. Im November wird hier der größte internationale Kongress zum Thema stattfinden, 500 Gäste werden erwartet. Ulrich Kneser ist deshalb schon ziemlich im Stress. Dabei wird es sicher auch um das umstrittene Thema "Stammzellen" gehen und die Embryonen, die die Forschung dafür angeblich braucht.

In Freiburg spricht kaum jemand über Stammzellen. Doch, Dr. Dietrich Möbest will demnächst mit Stammzellen forschen. Mit "mesenchymalen Stammzellen" aus dem Knochenmark Erwachsener allerdings. Mit Embryonen hat das nichts zu tun. Möbest ist mit 40 schon fast ein Urgestein im Labor, und er ist tatsächlich Ingenieur – für Biotechnologie. Die Stammzellen, doziert er, "könnten im Übergangsbereich zwischen Knochen und Knorpel eine wichtige Brückenfunktion einnehmen, weil sie sich in beide Richtungen differenzieren können."

So sieht das auch Stark. "In unserem Bereich haben wir keinen Bedarf an embryonalen Stammzellen. Wir arbeiten bewusst mit autologen Zellen, also Zellen des jeweiligen Patienten. Bei Geweben aus embryonalen Stammzellen sind die Probleme der Tumorbildung und der Abstoßung noch nicht geklärt." Aber, so fügt er hinzu: "Ein ethisches Problem habe ich damit nicht!" Embryonen im Reagenzglas sind für ihn "Zellen ohne Bewusstsein, die sonst verworfen würden". Sie als Rohstoff zu nutzen fiele ihm nicht schwer.

Starks Rohmaterial für die Forschung sind Knochensplitter, Fett, Haut, Nerven und Knorpelstückchen, die bei der plastischen Chirurgie abfallen. "Wir fragen unsere Patienten natürlich, ob wir ihre Gewebe für die Forschung verwenden dürfen", sagt Stark. "Die meisten fühlen sich geehrt."

JUDITH RAUCH



Biotissue AG

Die Firma Biotissue Technologies wurde 1997 in Freiburg als Spin-off des Universitätsklinikums Freiburg gegründet. Frau der ersten Stunde ist Dr. Eszter Tánczos, 31, aus Budapest. Sie fing Anfang 1996 als Research Fellow in Björn Starks Labor an, wurde ein Jahr später Laborleiterin. Ende 1997 übernahm sie zusätzlich die Koordination internationaler Kontakte für das Valley Tissue Engineering Center, ValleyTEC, in dem alle Freiburger "Gewebeingenieure" zusammenarbeiten.

Heute sitzt die Ärztin neben den Kaufleuten Dr. Wilhelm Brandner und Rainer Seubert im Vorstand der Biotissue AG, die im Dezember 2000 an die Börse ging. Die Firma züchtet in Reinraumlabors die von Stark entwickelte "Haut aus der Tube" und vermarktet sie unter dem Produktnamen BioSeed-S. Inzwischen sind weitere Produkte hinzu gekommen: Melanoseed, ein Pigmentzellersatz zur Behandlung der Weißfleckenkrankheit Vitiligo, sowie Bioseed-M, ein Mundschleimhaut-Transplantat für die Zahnchirurgie.

Wissenschaftler der Biotissue AG wirkten auch an zwei spektakulären Projekten der Universitätsklinik Freiburg mit: dem Wiederaufbau eines verletzten Ohrs aus Knorpelzellen des Patienten (September 2000) sowie der Rekonstruktion eines Mittelfingergelenks aus Knochen- und Knorpelzellen aus der Retorte. Das Gelenk wurde im November 2000 erfolgreich verpflanzt. (jr)

Weblink: http://www.biotissue.de


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