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Biotechnologie:
Chirurg Björn Stark hat an der Freiburger Universitätsklinik
ein weltweit anerkanntes Zentrum für Gewebezüchtung, "Tissue
Engineering" etabliert
Gewebe
aus der Retorte
Selten ist Medizin so medientauglich.
"Haut aus der Tube", "Gelenk aus der Retorte" oder
"Die Ohrmacher von Freiburg" – so lauteten in den letzten
Jahren die Schlagzeilen. Und immer steckt derselbe Mann dahinter: der
Chirurg Björn Stark aus Freiburg. Er hat im Schwarzwald ein Biotechnologie-Imperium
aufgebaut, das auf Gewebezucht basiert. Das Schöne: Stammzellen von
Embryonen braucht er dafür nicht!
Am Anfang war die Haut. Wenn Prof. Björn Stark, Ärztlicher Direktor
der Abteilung Plastische und Handchirurgie an der Universitätsklinik
Freiburg, erzählen soll, wie alles angefangen hat, kommt er auf seine
Zeit in Köln-Merheim zu sprechen. Von 1990 bis 1993 war der heute
43-Jährige dort Oberarzt an einem Schwerstverbrannten-Zentrum. Er
versuchte Menschen zusammenzuflicken, denen ein Feuer oder eine Explosion
große Teile ihrer Haut weggebrannt hatte. Stark war nicht zufrieden
mit den Heilmethoden, die ihm zur Verfügung standen.
Zwar gibt es synthetische Materialien, mit denen Ärzte Wunden vorübergehend
decken und vor Infektionen schützen können. Aber sie sind ebenso
wenig eine Dauerlösung wie transplantierte Leichenhaut von freiwilligen
Organspendern. "Fremdgewebe wird früher oder später abgestoßen",
erläutert Stark. "Und wenn wir Eigenhaut verpflanzen, müssen
wir sie dem Patienten an anderer Stelle wegnehmen. Schwerstverbrannte
haben gar nicht genug gesunde Haut dafür."
Also Hautzellen des Patienten im Labor vermehren? Darauf waren schon andere
gekommen. Mühsam, innerhalb von vier Wochen, wuchsen auf dem Boden
von Kulturflaschen pflastergroße "sheet grafts" heran,
künstliche Häute, "dünn wie eine Zwiebelhaut",
sagt Stark, die nur schlecht einheilten. Stark hatte eine bessere Idee:
"Nicht eine fertige Haut zu verpflanzen, sondern eine Suspension
von Einzelzellen in Fibrin. Und zwar teilungsfähige, biologisch noch
aktive Zellen." Und warum Fibrin? "Fibrin bildet der Körper
selbst bei jeder Wundheilung. Es ist sozusagen der Klebstoff der Natur",
sagt der Chirurg.
Stark testete die "Haut aus der Tube" 1991 zum ersten Mal an
einem jungen Mann, der 88 % seiner Haut verloren hatte: Ihm entnahm er
ein gesundes Hautstückchen, isolierte die Keratozyten (Zellen der
Oberhaut) und überließ sie in einer Nährlösung, unterstützt
von Wachstumsfaktoren, der Vermehrung im Brutschrank. Die neuen Zellen
bettete er in den Fibrinkleber ein und trug die Paste aus einer Spritze
auf die gesäuberten Wunden des Patienten auf. Der überlebte,
die Wunden vernarbten schneller als gewöhnlich, Arzt und Patient
waren froh.
Heute ist die "Haut aus der Tube" ein Routine-Heilverfahren.
Allerdings nicht in der Verbrennungsmedizin, in der sie sich nicht so
durchsetzen konnte, wie ihr Erfinder gehofft hatte. Doch bei chronischen
Wunden wird sie mehr und mehr angewandt. Betroffen davon sind, wie Stark
weiß, "rund 2 Mio. Patienten in Deutschland, meist ältere
Leute mit chronisch-venösen Geschwüren, Diabetes oder arteriellen
Durchblutungsstörungen. Menschen, deren "offene Beine"
manchmal bis zu 20 Jahre lang mit Salben und Verbänden versorgt werden
mussten, können plötzlich geheilt werden.
Das wäre sicher ein Grund stolz zu sein! Doch wenn Björn Stark
stolz ist, so merkt man es ihm kaum an. Der Freiburger Chirurg ist ein
unscheinbarer Mann, der mit leiser Stimme spricht; vom Auftreten her eher
ein tüfteliger Ingenieur-Typ, kein Halbgott in Weiß.
Bald erkannte Stark, das, was mit Haut geht, auch mit anderen Geweben
funktionieren könnte: Knorpel z.B., für neue Ohren. Oder Knochen.
Muskeln. Fett. Blutgefäße. Aber auch Sehnen und Faszien, ganze
Harnröhren und periphere Nerven.
An all diesen Geweben forschen heute 15 bis 20 Doktoranden, die Stark
– nach dem Motto "mach mal" – gerne frei experimentieren
lässt. Und zwar in den Labors des neuen Gebäudes für zentrale
klinische Forschung in Freiburg, wo ihnen teure Mikroskope, keimfreie
Arbeitsbänke und ein paar kühlschrankgroße Brutschränke
für die Anzucht der Zellen zur Verfügung stehen. Viel mehr Equipment
brauchen sie nicht, denn die Hauptarbeit – Wachsen und sich Teilen
– besorgen die Zellen selbst, die in ihren kleinen oder großen
eckigen Flaschen in einer geheimnisvoll rot schimmernden Flüssigkeit
schwimmen.
Dr. Ulrich Kneser ist als Forschungsleiter Herr des emsigen Geschehens.
Der schlanke Brillenträger ist erst 28 und hat schon als Medizinstudent
in Hamburg an der Züchtung von Leberzellen mitgeforscht. Gewebezüchtung,
Tissue Engineering, wie es amerikanisch heißt, fasziniert ihn, auch
wenn er meint, dass man noch ganz am Anfang steht: "Mit der Haut
sind wir jetzt so weit, wie man 1915 mit den Autos war. Es funktioniert.
Aber es gibt noch so viel zu perfektionieren!"
Justus Beier, 25, hat sich für seine medizinische Doktorarbeit viel
vorgenommen: Er möchte Vorläuferzellen menschlicher Muskeln
dazu bringen, dass sie sich zu Muskelzellen ausdifferenzieren, ohne dass
sie von einer Nervenzelle einen Reiz dazu erhalten. Wie soll das gehen?
Beier versucht es mit Gentransfer. Er schleust das Gen für einen
Wachstumsfaktor mit Hilfe von Bakterien-DNA in die Vorläuferzellen
ein. Aber ist das nicht gefährlich, transgenes Muskelgewebe in einen
Menschen zurück zu pflanzen? Kann es nicht zu unkontrolliertem Muskelwachstum,
gar einem Monster-Schwarzenegger kommen? "Diese Gene und ihre Produkte
werden schnell wieder abgebaut", beruhigt Beier.
Doch es geht beängstigend schnell voran im Tissue Engineering, und
Freiburg ist eines der wichtigsten Zentren dieser Technologie auf der
Welt. Im November wird hier der größte internationale Kongress
zum Thema stattfinden, 500 Gäste werden erwartet. Ulrich Kneser ist
deshalb schon ziemlich im Stress. Dabei wird es sicher auch um das umstrittene
Thema "Stammzellen" gehen und die Embryonen, die die Forschung
dafür angeblich braucht.
In Freiburg spricht kaum jemand über Stammzellen. Doch, Dr. Dietrich
Möbest will demnächst mit Stammzellen forschen. Mit "mesenchymalen
Stammzellen" aus dem Knochenmark Erwachsener allerdings. Mit Embryonen
hat das nichts zu tun. Möbest ist mit 40 schon fast ein Urgestein
im Labor, und er ist tatsächlich Ingenieur – für Biotechnologie.
Die Stammzellen, doziert er, "könnten im Übergangsbereich
zwischen Knochen und Knorpel eine wichtige Brückenfunktion einnehmen,
weil sie sich in beide Richtungen differenzieren können."
So sieht das auch Stark. "In unserem Bereich haben wir keinen Bedarf
an embryonalen Stammzellen. Wir arbeiten bewusst mit autologen Zellen,
also Zellen des jeweiligen Patienten. Bei Geweben aus embryonalen Stammzellen
sind die Probleme der Tumorbildung und der Abstoßung noch nicht
geklärt." Aber, so fügt er hinzu: "Ein ethisches Problem
habe ich damit nicht!" Embryonen im Reagenzglas sind für ihn
"Zellen ohne Bewusstsein, die sonst verworfen würden".
Sie als Rohstoff zu nutzen fiele ihm nicht schwer.
Starks Rohmaterial für die Forschung sind Knochensplitter, Fett,
Haut, Nerven und Knorpelstückchen, die bei der plastischen Chirurgie
abfallen. "Wir fragen unsere Patienten natürlich, ob wir ihre
Gewebe für die Forschung verwenden dürfen", sagt Stark.
"Die meisten fühlen sich geehrt."
JUDITH RAUCH
Biotissue
AG
Die Firma Biotissue Technologies wurde 1997 in Freiburg als Spin-off des
Universitätsklinikums Freiburg gegründet. Frau der ersten Stunde
ist Dr. Eszter Tánczos, 31, aus Budapest. Sie fing Anfang 1996
als Research Fellow in Björn Starks Labor an, wurde ein Jahr später
Laborleiterin. Ende 1997 übernahm sie zusätzlich die Koordination
internationaler Kontakte für das Valley Tissue Engineering Center,
ValleyTEC, in dem alle Freiburger "Gewebeingenieure" zusammenarbeiten.
Heute sitzt die Ärztin neben den Kaufleuten Dr. Wilhelm Brandner
und Rainer Seubert im Vorstand der Biotissue AG, die im Dezember 2000
an die Börse ging. Die Firma züchtet in Reinraumlabors die von
Stark entwickelte "Haut aus der Tube" und vermarktet sie unter
dem Produktnamen BioSeed-S. Inzwischen sind weitere Produkte hinzu gekommen:
Melanoseed, ein Pigmentzellersatz zur Behandlung der Weißfleckenkrankheit
Vitiligo, sowie Bioseed-M, ein Mundschleimhaut-Transplantat für die
Zahnchirurgie.
Wissenschaftler der Biotissue AG wirkten auch an zwei spektakulären
Projekten der Universitätsklinik Freiburg mit: dem Wiederaufbau eines
verletzten Ohrs aus Knorpelzellen des Patienten (September 2000) sowie
der Rekonstruktion eines Mittelfingergelenks aus Knochen- und Knorpelzellen
aus der Retorte. Das Gelenk wurde im November 2000 erfolgreich verpflanzt.
(jr)
Weblink: http://www.biotissue.de
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