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Der
Urologe mit Blues im Blut - Jens Rassweiler
Eine
erfolgreiche Rockband mit drei Chefärzten als Musikern? Ein
Provinzkrankenhaus, dessen urologische Abteilung international führend
ist bei Schlüsselloch-Operationen? Beides gibt es, und hinter beidem
steckt derselbe Mensch.
Warten auf den Professor. „Der Chef ist noch im
Operationssaal“, hat die Sekretärin gesagt. „Aber er kommt gleich.“
Also Platz nehmen auf einem Klappstuhl im Flur der urologischen Ambulanz
des Klinikums Heilbronn. Gleich neben einem älteren Ehepaar –
hoffentlich die letzten Patienten dieses Nachmittags. Gelegentlich huscht
ein blaubekittelter Arzt oder Pfleger vorbei und verschwindet hinter einer
Tür. Zum Zeitvertreib blättere ich in einem dicken Ordner mit der
Aufschrift „Uroband“. Darin abgeheftet sind zahlreiche Zeitungsartikel
über eine phänomenale Rockband, die „der Chef“, auf den ich warte,
mit begründet hat. „Grooven unter der Gürtellinie“ heißen die Überschriften,
„G(H)eile Welt“ oder: „Wenn Urologen die Prostata besingen“.
Einige Lieder kenne ich, denn der Chef hat mir zum Probehören CDs der
„Mannheim Uroband“ geschickt. Besonders ein Lied klingt mir im Ohr:
Wir sind in der Klinik zu Haus
von morgens früh bis spät ...
Da kommt er: Jens Rassweiler. Mittelgroß, drahtig. Er begrüßt mich
kittellos in Hemd und Hose, wirkt freundlich, aber voller Unruhe. Als ahne
er, dass der Kliniktag nicht zu Ende ist.
Und tatsächlich: Gerade hat der 48-Jährige von seinen medizinischen Anfängen
erzählt („eigentlich wollte ich mal Gynäkologe werden“), von seinen
ersten Erlebnissen als Anästhesiepfleger in der Urologie („Resektion
der Prostata – wie das schon riecht! Also, das hat mich alles abgestoßen“),
von seinen Ausflügen in die Pathologie und wie er als Assistenzarzt bei
Prof. Ferdinand Eisenberger in Stuttgart doch noch Spaß an der Urologie,
am Operieren – und am Fußballspielen fand. Da kommt sie schon, die
erste Unterbrechung. Ob der Chef mal in den OP kommen könne?
Postoperative Komplikationen. Prostata. Koagel. Ich verstehe nicht alles,
aber doch so viel, dass es dringend ist. Rassweiler seufzt, entschuldigt
sich und geht.
Ich hab ’ne Klinik im Besitz und einen Mitarbeiterstab,
die halt ich selbstverständlich jeden Tag auf Trab.
So heißt es im Uroband-Song „Ich bin der Chef“. Aber hier in
Heilbronn scheinen die Verhältnisse umgekehrt zu sein. Im Chef-Zimmer hängen
Fotos an der Wand: Ehefrau Katrin, Sohn Moritz, Tochter Marie-Claire –
eine nette Familie. Wie oft sie wohl den Vater sieht? Daneben zwei
Professoren-Porträts: Der schon erwähnte Prof. Eisenberger. Und Prof.
Peter Alken, der frühere Vorgesetzte am Klinikum Mannheim, wo Rassweiler
Leitender Oberarzt war – und wo die Uroband entstand. Beide Fotos mit
enthusiastischen Widmungen für den begabten, tüchtigen früheren
Mitarbeiter. Auch eine Statistik hängt hier, aus dem Fachblatt
„Laborjournal“: Danach gehört der Wissenschaftler Jens Rassweiler zu
den meist zitierten deutschsprachigen Autoren in der Urologie.
„Haben Sie gesehen? Ich bin der viertbeste Deutsche“, ruft er, gerade
wieder hereingekommen. Der viertbeste? Steht er nicht auf Platz 14? Nein,
Rassweiler erklärt es: Da sind eine ganze Reihe Pathologen mit
urologischen Themen auf den vorderen Plätzen, „keine richtigen
Urologen“. Außerdem sind Österreicher und Schweizer dabei. Gut – er
ist wirklich der viertbeste Deutsche. „Und das ohne den ganzen Apparat,
den Sie an einer Uniklinik haben“, betont der Heilbronner.
Forscherdrang, wer schreibt, der bleibt,
Forscherdrang als Zeitvertreib,
Forscherdrang immer ganz beflissen,
weil Mediziner furchtbar gerne alles wissen.
Auch wenn die Reime manchmal holpern, die Texte der Uroband bringen die
Dinge auf den Punkt. Rassweilers Forscherdrang hatte sich bis zum Mai 1997
bereits in 580 wissenschaftlichen Artikeln niedergeschlagen – eine
aktuellere Publikationsliste findet er gerade nicht auf seinem Computer.
In den späten achtziger und frühen neunziger Jahren richtete sich sein
Forscherdrang vor allem auf das damals brandneue Verfahren der
Nierensteinzertrümmerung mittels gebündelter Druckwellen.
„Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie“ (ESWL) sagen die Urologen,
„shock wave killer“ heißt die Apparatur im Song der Uroband.
Rassweiler hat alle Lithotripter getestet, die auf dem Markt sind. „Für
die Medizin war ESWL ein wichtiger Schritt.“ Ein Nierenstein kann jeden
treffen. Er kann in der Niere heranwachsen, in den Harnleiter gelangen,
dort stecken bleiben und fürchterliche Schmerzen verursachen –
Nierenkolik:
Ich bin Rocky, der Stein,
ich bin klein und gemein,
ich bin Rocky, der Stein
und ich bin ein fieses Schwein.
Irgendwann hatte Rassweiler genug von den Lithotriptern („die kann
inzwischen jeder bedienen“), und sein Forscherdrang wandte sich der Schlüsselloch-Chirurgie
zu. Im Februar 1992 entfernte er als erster deutscher Arzt einer Patientin
eine chronisch entzündete Niere per Laparoskopie.
Eine Premiere, die Schlagzeilen machte. Die Frauenzeitschrift „die
aktuelle“ beschrieb die Operation damals so: „Statt aufzuschneiden,
schob Dr. Rassweiler vier Metallröhrchen durch die Bauchdecke. Durch
eines der Röhrchen wurden eine elektrische Minikamera und eine
Beleuchtung geschoben, durch die anderen die chirurgischen
Winziginstrumente: Schere, Pinzette, Nadelhalter und Stanzgerät.“ Die
Niere wurde freigelegt und in der Bauchhöhle in einen kleinen Plastiksack
gepackt. Dort zerschnitten sie die Ärzte in drei Teile, um sie samt Sack
durch eine der engen Hautöffnungen ziehen zu können. Auf einem Foto
zeigt die Patientin lächelnd ihren Bauch mit den zierlichen Narben. Ihr Operateur dichtete damals stolz:
We are keyhole surgeons,
we want to get the kidneys out.
We are keyhole surgeons,
we know how to get them out.
Zwei Wochen nach dem ersten Gespräch bin ich mit Jens Rassweiler im Auto
unterwegs. Wir fahren zu Aufnahmen in ein Tonstudio in Mannheim, wo die
neueste CD der Uroband entsteht. Rassweiler steuert den silberfarbenen
Audi TT leichthändig über die Autobahn, wechselt die Fahrspur so
elegant, wie ein Skifahrer – der er auch ist – über die Piste wedelt.
Wir haben’s eilig,
von morgens früh bis in die Nacht,
wir haben’s eilig,
wir haben’s eilig jeden Tag ...
Das Mobiltelefon klingelt. Es ist seine Frau, Katrin Rassweiler. Sie ist
Medizinisch-Technische Assistentin und arbeitet stundenweise im Büro
ihres Mannes. „So sehe ich ihn wenigstens ab und zu“, hat sie gesagt,
als ich sie zwei Wochen zuvor traf. Damals holte sie ihren Mann von der
Arbeit ab, weil er mit musste zu einem Termin in der Schule des Sohnes.
Vaterpflichten – „die nehme ich durchaus ernst“, hat er gesagt.
„Wir sind noch unterwegs, wir sind spät dran“, berichtet er nun
seiner Frau. „Es hat länger gedauert im OP. Ich musste konvertieren.“
Konvertieren? „Ich musste von der Endoskopie auf die offene Operation
umsteigen“, erklärt mir der Urologe, nachdem er aufgelegt hat. Ein
schwieriger Fall – der Prostata-Tumor war größer als erwartet. Seit
1999 wagt sich Rassweiler auch an Prostata-Operationen durchs Schlüsselloch.
„Das ist ein schwerer Eingriff, nichts für Anfänger“, sagt er.
„Die Gegend ist blutreich, und man muss nähen können. Man muss die
Blase an die Harnröhre annähen.“ Und das Ganze durchs Schlüsselloch?
„Das geht. Das kann man lernen“, versichert Rassweiler. Er hat schon
viele ausländische Ärzte unterwiesen – Israelis, Inder, Saudis,
Amerikaner. „Wir üben das am Pelvitrainer. Das ist eine Schweinsblase
in einem Kasten, die uns als Modell dient. Die Nahttechnik kann man auch
an einem Hühnerschlegel üben.“ Der Arzt untermalt seine Ausführungen
begeistert mit den Händen. Dabei schaut er mich an, ob ich auch alles
verstehe. Jetzt wird mir doch ein wenig bange: „Wollen Sie sich nicht
lieber auf den Verkehr konzentrieren?“ Der Chef gehorcht.
Oh Prostata, du warst immer für uns da.
Prostata, das ist wunderbar.
Du gibst uns Arbeit, gibst uns Brot.
Du bist der Retter in der Not.
Bei seinen deutschen Kollegen, die nach wie vor lieber „offen“
operieren, sei er mit der neuen Operationstechnik nicht so gut angekommen,
erzählt Rassweiler, plötzlich etwas kleinlaut. „Sie sehen eine gefährliche
Konkurrenz in mir. Ich nage an ihrem Brot, und das lassen sie mich spüren.“
Ungern erinnert er sich an einen Urologenkongress im Januar 2001. Er habe
damals über 180 erfolgreiche Schlüsselloch-Operationen an der Prostata
berichtet. „Ein Kollege aber hatte 10 probiert und war zu dem Ergebnis
gekommen: Es geht nicht.“ Und dieser Meinung habe sich die Mehrheit
angeschlossen. „Ich bin eher im Ausland bekannt“, tröstet sich der
Pionier. „Urologia es magnifica.“
Rassweiler spricht Englisch, Französisch und Spanisch, er versteht
Italienisch und Portugiesisch. Er mag Kongresse, lässt sich gerne in
internationale Gremien wählen. „Ich liebe es, fremde Länder arbeitend
zu erleben“, sagt er. Die Familie wird integriert: So durfte Sohn
Moritz, 19, den Vater zu Vortrag und Gastoperation nach Singapur
begleiten. Die Tochter besuchte er während ihres Schüleraustausches in
den USA. Kein Wunder, dass auch die Mannheim Uroband immer internationaler
wird. 2002 spielte sie beim Europäischen Urologenkongress in Birmingham.
2001 erschien die erste CD mit englischen Texten:
We are the Uroband
from sunny Mannheim.
We love the life we live ...
Doch wie hat es mit der Uroband eigentlich angefangen? Während wir uns
Mannheim nähern, wird es Zeit, das zu beantworten. „Es war während
einer blutigen Operation“, setzt Jens Rassweiler an. „Das Radio
lief...“ und fünf Herren in grünen Kitteln – die Oberärzte Jens
Rassweiler, Reinhold Tschada und Mathias Löbelenz, dazu Stefan Forster,
Arzt im Praktikum, sowie der Zivildienstleistende Tim Jäger – wippten
mit. Schnell kam die Frage auf nach musikalischen Vorlieben, und wer
welche Instrumente spiele. „Und siehe da, wir hatten eine Band.“
Wir sind die besten Urologen,
wir killen Steine und Tumoren,
wir flicken Blasen, retten Hoden,
wir sind die besten Urologen.
Das war der erste gemeinsame Song. Mit Forster als Lead-Sänger,
Rassweiler und Löbelenz an den Gitarren, dem Bassisten Tschada und dem
bereits in Hardrock-Bands erprobten Drummer Jäger entstand eine
Formation, die in den kommenden Jahren von Erfolg zu Erfolg eilte. Die
Mannheim Uroband begeisterte zunächst auf Klinikfesten und Kongressen,
produzierte 1989 ihre erste Maxisingle und 1991 ihre erste von
mittlerweile sieben CDs. Fernseh-Auftritte kamen hinzu – vom
Gesundheitsmagazin bis zu Harald Schmidt, von Stefan Raab bis zu den
Lustigen Musikanten.
„Jetzt habe ich doch glatt die falsche Ausfahrt genommen", sagt
Rassweiler. „Wir müssen ja gar nicht zum Probenkeller. Wir müssen ins
Tonstudio.“ Er wendet – und alles wird gut. In dem Backsteinhäuschen
neben den Eisenbahnschienen, in dem sich das Studio verbirgt, begrüßt
uns ein Mann, der nicht viel spricht: „Steff“, Werner Stephan, der
Tontechniker, der die Mannheim Uroband seit ihren Anfängen begleitet.
Eine flotte Rock-Melodie wird eingespielt, Rassweiler – Kopfhörer auf
dem Kopf – soll ein Gitarrensolo dazu liefern. Die meisten anderen
Instrumente und Stimmen sind schon im Kasten beziehungsweise auf den
digitalen Kanälen aufgezeichnet, die ich als hüpfende Balken auf der großen
Anzeige hinter dem vier Meter breiten Mischpult sehen kann.
... wenn die Pumpe mal nicht mag
Immer wieder muss Rassweiler an dieser Stelle einsetzen mit seinem Solo.
Denn Steff, der Herrscher über Mischpult und Schnittgerät, bemerkt jede
Unvollkommenheit – mal kämpft er mit Nebengeräuschen, mal passt ihm
Rassweilers Tempo nicht, der nächste Versuch ist ihm zu unrhythmisch, überhaupt:
„Willst du nicht höher spielen?“ Und Jens spielt. Und flucht. Und
schwitzt. Und spielt. Alles Chefärztliche, Professorale und jegliche
Eitelkeit sind von ihm abgefallen, und in der seltsamen Kostümierung –
Badehose, T-Shirt, Gitarre und Kopfhörer – wirkt der Gitarrist Jens
Rassweiler hochkonzentriert, mit sich zufrieden und kein bisschen lächerlich.
Wenn er dann zur Mundharmonika greift und loslegt, dann gelingen sie auf
Anhieb, die Passagen, die sogar Steff gelten lässt: „Super, das lass
ich gleich so stehen.“
Music is the key
to joy and harmony,
come on, join the train,
to happiness and fame.
Ja, der musikalische Ruhm ist über sie gekommen, die drei Oberärzte
Rassweiler, Tschada und Löbelenz, die heute Chefärzte in Heilbronn,
Mannheim und Neustadt an der Weinstraße sind. Und über den Neu-Berliner
Jäger. Und auch auf den Forster-Ersatz Matthias Köninger, einen
Musiktherapeuten, färbt er ab. Besonders heiß geht es bei den
Live-Konzerten der Mannheim Uroband zu. „Ein bisschen wie bei der Rocky
Horror Picture Show“, sagt Jäger. Die Fans kommen in weißen oder grünen
Arztkitteln angereist, singen die Lieder mit, werfen Laborhandschuhe,
Katheter, Fingerlinge und die gefürchteten apfelsafthaltigen Urinbeutel
auf die Bühne.
Wer neu ist und die Uroband nicht kennt, sitzt still und lauscht. Denn
nicht nur die Rhythmen – von Blues über Hip-Hop bis Polka, auch die
Texte haben es in sich. Nur selten sind es reine Blödeleien, und nicht
alles, was thematisiert wird, ist zum Lachen. Es geht auch um
Nachtdienste, Prüfungen und die Angst vor der Operation, es geht um des
Mannes bestes Stück
das Maß aller Dinge – jeder Zentimeter zählt
und um Viagra
das blaue Wunder – endlich wird er wieder munter.
Sogar einen Hoden hat die Uroband schon gerettet. „Ich hab ein Lied im
Radio gehört über eine Krankheit, ich glaub, die hab ich auch“, sagte
einer, der in die urologische Notfallsprechstunde kam. Tatsächlich hatte
der Mann eine Hodentorsion – und es war noch nicht zu spät für eine
organerhaltende Operation.
Was rät Prof. Jens Rassweiler mit tiefer Chefarztstimme gleich nochmal?
„Kommen Sie in unsere Sprechstunde. Und es wird alles gut.“
Kompakt
Geburtstag: 20. März 1955
Position: Chefarzt für Urologie am Klinikum Heilbronn seit 1994.
Spezialität: Schlüsselloch-Operationen an Blasen, Nieren und Prostata.
Weltweit unterwegs als Gastoperateur.
Leidenschaft: Gitarre spielen in der „Mannheim Uroband“.
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