Judith Rauch schreibt: Reader´s Digest Februar 2003

Besser hören – besser leben

Wieder ganz Ohr

Tabu Schwerhörigkeit: Fast 20 Prozent von uns sind betroffen, die meisten tun nichts dagegen. Dabei könnten Hörgeräte helfen.

Anja Vetter war 16, als sie am Blinddarm operiert werden musste. Dabei erkrankte sie an einer Bauchfellentzündung. Dank eines starken Antibiotikums wurde sie wieder gesund. Zurück in der Realschule im hessischen Weilburg, merkte Anja aber, dass etwas nicht stimmte: Sie verstand die Lehrer schlechter. Nur wenn sie in der ersten Bank saß, bekam sie alles mit.

Einmal saß sie hinten im Klassenzimmer, als im Deutschunterricht ein Diktat geschrieben wurde. Der Lehrer gab ihr die Arbeit voller Korrekturen zurück: keine Rechtschreibfehler. Anja hatte teilweise einen völlig anderen Text notiert.

Anja Vetter wusste nicht, was los war. "Warum reden die anderen so leise?", fragte sie sich. Zwei Jahre später begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester. Dabei fiel  den Stationsschwestern auf, dass Anja oft nicht reagierte, wenn man sie rief. Immer wieder kam es zu Missverständnissen. Der Betriebsarzt überwies sie endlich zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Der diagnostizierte eine erhebliche Schwerhörigkeit auf beiden Ohren – vermutlich eine Folge des Jahre zuvor eingenommenen hoch dosierten Antibiotikums.

Eine Schwerhörige unter vielen. Denn – was kaum jemand weiß: Hörprobleme sind weit verbreitet. "Nach neueren Untersuchungen leiden in Deutschland etwa 15 Millionen Menschen unter erheblichen Hör- und Verstehenseinbußen", sagt Jürgen Kießling, Professor für Audiologie an der Universität Gießen. Der 55jährige Medizinphysiker und Buchautor* trägt selbst Hörgeräte – vermutlich ein Tribut an Schießübungen ohne Gehörschutz bei der Bundeswehr.  "18 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind schwerhörig", sagt er. In Österreich hören 19 Prozent schlecht.

Ursachen gibt es viele. Da sind zum einen Schalleitungsstörungen: Ausgelöst durch an sich harmlose Ohrschmalzpfropfen oder durch Erkrankungen im Außen- und Mittelohr, sind sie meistens mit Medikamenten oder durch Operationen behandelbar. Die weitaus häufigste Form aber ist die Innenohrschwerhörigkeit, die durch Hörstürze, zu hohe Lärmbelastung oder andere schädigende Einflüsse verursacht wird. Etwa zwölf Millionen Menschen in Deutschland und rund 1,2 Millionen in Österreich können weder durch Medikamente noch durch Operationen vollständig geheilt werden; nur Hörgeräte können ihnen im Alltag helfen.

Das erfuhr auch Professor Kießlings Patient Hans Gerlach, 66: Der Diplomingenieur musste sich 1985 einer Bypass-Operation unterziehen. "Da meine Frau schon länger klagte, ich würde sie schlecht verstehen, ging ich anschließend eine Woche in die HNO-Klinik", erinnert sich Gerlach.

Dort durchlief er verschiedene Hörtests, die auch niedergelassene Hals-Nasen-Ohren-Ärzte oder Hörgeräte-Akustiker durchführen: Bei einem Tonschwellen-Audiogramm wird ermittelt, welche Tonhöhen der Patient bei welcher Lautstärke gerade noch hört. Eine Variante des Tests zeigt an, ob das Mittel- oder das Innenohr betroffen ist. Mit einem Sprachtest wird das im Alltag so wichtige Sprachverstehen geprüft.

Bei Hans Gerlach fiel die Diagnose eindeutig aus: beidseitige Innenohr-Schwerhörigkeit, vermutlich infolge von Durchblutungsstörungen. Man verordnete ihm zwei Hörgeräte. Der Ingenieur probierte mehrere aus, dann entschied er sich für ein so genanntes "Im Ohr"-Modell, das nahezu ganz im Gehörgang verschwindet. "Mir war wichtig, dass ich mich mit den Geräten bewegen, dass ich Sport treiben und am öffentlichen Leben teilnehmen kann", sagt Gerlach. Manchmal stößt er an die Grenzen der Hörgerätetechnik: "In großen Gruppen ist die Verständigung sehr anstrengend", sagt er. "Wenn´s richtig rund geht, wenn Gespräche und Musik zusammenkommen, wird es mir oft zu laut."

"Hörgeräte geben uns die Möglichkeit, besser zu hören und zu kommunizieren," erklärt Professor Kießling dazu. "Sie können uns aber nicht zu normal hörenden Menschen machen." Technisch gesehen, verstärken Hörgeräte den Schall in den Bereichen, die der Patient schlechter wahrnimmt.

Hörgeräte müssen optimal auf den Patienten abgestimmt werden. Dazu ist eine Eingewöhnungszeit mit zahlreichen Besuchen beim Hörgeräte-Akustiker erforderlich. "Drei oder vier Monate hat es bei mir gedauert", erinnert sich Anja Vetter, die mittlerweile 32jährige Krankenschwester. "Von anfänglichen Problemen sollte man sich nicht abschrecken lassen."

Heute ist der Gang zum Hörgeräte-Akustiker für sie Routine. In Ortwin Kraft in Wetzlar hat sie einen Akustiker gefunden, dem sie sich vertraut. Mithilfe von Tests und Fragebögen, aber auch aufgrund seiner langjährigen Erfahrung versucht der 43-Jährige herauszufinden, was seine Kunden brauchen und was noch verbessert werden muss: Klappt das Einsetzen ins Ohr? Stört der Fremdkörper im Gehörgang? Dröhnt die eigene Stimme dumpf im Kopf? Wirkt der Straßenlärm unangenehm laut? Werden Stimmen gut verstanden?

Auch die Kosten wollen bedacht sein: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen nur einen Festbetrag pro Gerät, der je nach Bundesland zwischen 363 und 508 Euro liegt. In Österreich zahlt die Sozialversicherung für ein Gerät einen Zuschuss von 710 Euro, für zwei 1278 Euro. Für hochmoderne Geräte muss der Kunde zuzahlen – bis 1500 Euro pro Gerät. Fünf bis sechs Jahre halten die Apparate im Schnitt, dann sind neue fällig.

Mancher befürchtet auch einen Imageverlust: "In meinem Alter schon Hörgeräte. Was werden die Kollegen denken?" Oder pflegt alte Vorurteile: "Die helfen nicht wirklich. Und schon Onkel Erwin hat erzählt, dass das Ding ihm ständig im Ohr gepfiffen hat." Dabei sind modere Geräte in der Lage, Rückkopplungen weitgehend zu verhindern. Viele Schwerhörige wissen gar nicht, dass es heute Modelle gib mit ausgefeilter Technik, die vorwiegend die Worte des Gesprächspartners, nicht aber den Umgebungslärm verstärkt.

Und es wissen immer noch nicht alle Eltern, dass auch Kinder, selbst Neugeborene schwerhörig sein können. Dabei ist ein Hörgerät für die kleinen und kleinsten Hörgeschädigten besonders wichtig, damit sie richtig sprechen lernen und später in der Schule mitkommen.

Überzeugten Hörgeräte-Trägern wie Vetter, Gerlach und Kießling aber ist bewusst,  dass sie "ohne" viel schlimmer dran wären. "Ich könnte meinen Beruf nicht ausüben", sagt zum Beispiel Anja Vetter.

Auch die privaten Beziehungen würden leiden. Die hörgeschädigte Schriftstellerin Katharina Billich aus Heidelberg hat das einfühlsam beschrieben: "Der Mensch gerät ins gesellschaftliche Abseits. Ohne es zu wollen, sondert er sich ab. Ihm droht die Vereinsamung, die mit einem zeitweiligen Alleinsein nicht gleichzusetzen ist, sondern die sich tief in seine Seelenschichten einschleicht."

Einer solchen Entwicklung können moderne Hörsysteme vorbeugen. Erst vor kurzem haben Wissenschaftler der Universität Maastricht (Niederlande) nachgewiesen, dass frisch mit Hörgeräten versorgte Patienten schon nach 16 Wochen berichten, besser in ihrem sozialen Umfeld zurechtzukommen. Und was das bedeutet, weiß der selbst betroffene Professor Jürgen Kießling ganz genau: "Eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität".

JUDITH RAUCH

*Prof. Dr. Jürgen Kießling: Endlich wieder besser hören. Trias Verlag, Stuttgart, 14,95 Euro


Wie kommt es zu Schwerhörigkeit, und was hilft?

Im Außenohr: Fremdkörper, Entzündungen und Tumoren können den Gehörgang blockieren. Ohrenschmalzpfropfen, die den Gehörgang verschließen, bilden sich manchmal durch den Gebrauch von Wattestäbchen –  die man besser meiden sollte –, in seltenen Fällen auch von selbst. Der HNO-Arzt kann die Pfropfen mit Spezialgeräten entfernen.

Im Mittelohr: Das Mittelohr besteht aus dem Trommelfell und der luftgefüllten Paukenhöhle. Darin leiten die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel den Schall zum Innenohr. Kommt es im Mittelohr zu Flüssigkeitsansammlungen, Entzündungen oder Tumoren, kann diese Schall-Leitung beeinträchtigt sein. "Eine außen- oder mittelohrbedingte Schwerhörigkeit kann meist mit Medikamenten oder operativ geheilt werden", sagt der Gießener Professor für Audiologie Jürgen Kießling.

Im Innenohr: Das Innenohr ist der Ort der Schallempfindung. Dort sitzt die Hörschnecke (Cochlea), ein Organ mit zwei schwingenden Membranen und 20.000 hoch empfindlichen Haarzellen. Der im Innenohr ankommende Schall lässt die Membranen schwingen. Das wiederum reizt die Haarzellen., die die Schwingungen in Nervenimpulse umwandeln und an den Hörnerv weitergeben. Die Haarzellen können durch die unterschiedlichsten Einflüsse geschädigt werden. Diese Schäden sind meist von Dauer.  Darum kommen Innenohrschwerhörigkeiten etwa vier Mal so oft vor wie Schallleitungs-Störungen.

Innenohrschwerhörigkeit wird am häufigsten ausgelöst durch:

1. Den Hörsturz – eine plötzlich und meist einseitig auftretende Hörverschlechterung, die unter anderem von Durchblutungsstörungen oder Infektionen ausgelöst wird. "Der Hörsturz muss umgehend medikamentös behandelt werden, damit die Schwerhörigkeit nicht chronisch wird", sagt Professor Kießling.

2. Laute Beschallung (Schalltrauma) – die einzige Schwerhörigkeit, der man vorbeugen kann. Gehörschutz an lärmreichen Arbeitsplätzen, beim Heimwerken oder Motorradfahren sollte darum selbstverständlich sein. Menschen mit empfindlichen Ohren empfiehlt Kießling, beim Disco- oder Popkonzert-Besuch das Gehör zu schützen und Ohrstöpsel zu tragen.

3. Die "altersbegleitende Schwerhörigkeit", ein Schicksal, das den einen früher, den anderen später trifft: Nach heutigen Erkenntnissen handelt es sich dabei wohl um die Folge sämtlicher Gehörgefährdungen, denen wir uns im Laufe unseres Lebens aussetzen, etwa durch laute Beschallung, Durchblutungsstörungen, Ernährungsfehler, Bluthochdruck oder Diabetes.


Hilfe und Selbsthilfe

Wer einen schwerhörigen Partner hat (Hörgeräte-Träger oder nicht), kann ihm mit ein paar einfachen Tricks das Verstehen erleichtern:

1. Unnötige Hintergrundgeräusche (Radio, Fernseher) vermeiden.

2. Vor dem Gespräch Blickkontakt aufnehmen, beim Sprechen das Gesicht zuwenden.

3. Deutlich und langsam sprechen, damit der Partner auch das Mundbild lesen kann.

4. Möglichst kurze und klare Sätze formulieren.

Der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) unterhält Ortsvereine und Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland. Infos bei der Geschäftsstelle: Breite Straße 3, 13187 Berlin, Tel. (030) 47 54 11 14,  E-Mail: DSB@schwerhoerigkeit.de

Für den Austausch unter Hörbehinderten bewährt sich hervorragend das Internet: www.schwerhoerigkeit.de

Ansprechpartner in Österreich ist der Österreichische Schwerhörigenbund, Triester Straße 172/1, A-8020 Graz, Tel. (0316) 26 21 57-1, E-Mail: oesb.dachverband@aon.at

Weitere Informationen finden österreichische Betroffene im Internet unter: www.schwerhoerigen-netz.at

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