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Besser hören – besser leben
Wieder
ganz Ohr
Tabu Schwerhörigkeit: Fast 20
Prozent von uns sind betroffen, die meisten tun nichts dagegen. Dabei
könnten Hörgeräte helfen.
Anja Vetter
war 16, als sie am Blinddarm operiert werden musste. Dabei erkrankte sie
an einer Bauchfellentzündung. Dank eines starken Antibiotikums wurde sie
wieder gesund. Zurück in der Realschule im hessischen Weilburg, merkte
Anja aber, dass etwas nicht stimmte: Sie verstand die Lehrer schlechter.
Nur wenn sie in der ersten Bank saß, bekam sie alles mit.
Einmal saß sie hinten im Klassenzimmer, als im Deutschunterricht ein
Diktat geschrieben wurde. Der Lehrer gab ihr die Arbeit voller Korrekturen
zurück: keine Rechtschreibfehler. Anja hatte teilweise einen völlig
anderen Text notiert.
Anja Vetter wusste nicht, was los war. "Warum reden die anderen so
leise?", fragte sie sich. Zwei Jahre später begann sie eine Ausbildung
zur Krankenschwester. Dabei fiel den
Stationsschwestern auf, dass Anja oft nicht reagierte, wenn man sie rief.
Immer wieder kam es zu Missverständnissen. Der Betriebsarzt überwies sie
endlich zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Der diagnostizierte eine
erhebliche Schwerhörigkeit auf beiden Ohren – vermutlich eine Folge des
Jahre zuvor eingenommenen hoch dosierten Antibiotikums.
Eine Schwerhörige unter vielen. Denn – was kaum jemand weiß: Hörprobleme
sind weit verbreitet. "Nach neueren Untersuchungen leiden in Deutschland
etwa 15 Millionen Menschen unter erheblichen Hör- und Verstehenseinbußen",
sagt Jürgen Kießling, Professor für Audiologie an der Universität Gießen.
Der 55jährige Medizinphysiker und Buchautor* trägt selbst Hörgeräte
– vermutlich ein Tribut an Schießübungen ohne Gehörschutz bei der
Bundeswehr. "18 Prozent der
Bevölkerung in Deutschland sind schwerhörig", sagt er. In Österreich
hören 19 Prozent schlecht.
Ursachen gibt es viele. Da sind zum einen Schalleitungsstörungen: Ausgelöst
durch an sich harmlose Ohrschmalzpfropfen oder durch Erkrankungen im Außen-
und Mittelohr, sind sie meistens mit Medikamenten oder durch Operationen
behandelbar. Die weitaus häufigste Form aber ist die Innenohrschwerhörigkeit,
die durch Hörstürze, zu hohe Lärmbelastung oder andere schädigende
Einflüsse verursacht wird. Etwa zwölf Millionen Menschen in Deutschland
und rund 1,2 Millionen in Österreich können weder durch Medikamente noch
durch Operationen vollständig geheilt werden; nur Hörgeräte können
ihnen im Alltag helfen.
Das erfuhr auch Professor Kießlings Patient Hans Gerlach, 66: Der
Diplomingenieur musste sich 1985 einer Bypass-Operation unterziehen. "Da
meine Frau schon länger klagte, ich würde sie schlecht verstehen, ging
ich anschließend eine Woche in die HNO-Klinik", erinnert sich Gerlach.
Dort durchlief er verschiedene Hörtests, die auch niedergelassene
Hals-Nasen-Ohren-Ärzte oder Hörgeräte-Akustiker durchführen: Bei einem
Tonschwellen-Audiogramm wird ermittelt, welche Tonhöhen der Patient bei
welcher Lautstärke gerade noch hört. Eine Variante des Tests zeigt an,
ob das Mittel- oder das Innenohr betroffen ist. Mit einem Sprachtest wird
das im Alltag so wichtige Sprachverstehen geprüft.
Bei Hans Gerlach fiel die Diagnose eindeutig aus: beidseitige
Innenohr-Schwerhörigkeit, vermutlich infolge von Durchblutungsstörungen.
Man verordnete ihm zwei Hörgeräte. Der Ingenieur probierte mehrere aus,
dann entschied er sich für ein so genanntes "Im Ohr"-Modell, das
nahezu ganz im Gehörgang verschwindet. "Mir war wichtig, dass ich mich
mit den Geräten bewegen, dass ich Sport treiben und am öffentlichen
Leben teilnehmen kann", sagt Gerlach. Manchmal stößt er an die Grenzen
der Hörgerätetechnik: "In großen Gruppen ist die Verständigung sehr
anstrengend", sagt er. "Wenn´s richtig rund geht, wenn Gespräche und
Musik zusammenkommen, wird es mir oft zu laut."
"Hörgeräte geben uns die Möglichkeit, besser zu hören und zu
kommunizieren," erklärt Professor Kießling dazu. "Sie können uns
aber nicht zu normal hörenden Menschen machen." Technisch gesehen,
verstärken Hörgeräte den Schall in den Bereichen, die der Patient
schlechter wahrnimmt.
Hörgeräte müssen optimal auf den Patienten abgestimmt werden. Dazu ist
eine Eingewöhnungszeit mit zahlreichen Besuchen beim Hörgeräte-Akustiker
erforderlich. "Drei oder vier Monate hat es bei mir gedauert",
erinnert sich Anja Vetter, die mittlerweile 32jährige Krankenschwester.
"Von anfänglichen Problemen sollte man sich nicht abschrecken
lassen."
Heute ist der Gang zum Hörgeräte-Akustiker für sie Routine. In Ortwin
Kraft in Wetzlar hat sie einen Akustiker gefunden, dem sie sich vertraut.
Mithilfe von Tests und Fragebögen, aber auch aufgrund seiner langjährigen
Erfahrung versucht der 43-Jährige herauszufinden, was seine Kunden
brauchen und was noch verbessert werden muss: Klappt das Einsetzen ins
Ohr? Stört der Fremdkörper im Gehörgang? Dröhnt die eigene Stimme
dumpf im Kopf? Wirkt der Straßenlärm unangenehm laut? Werden Stimmen gut
verstanden?
Auch die Kosten wollen bedacht sein: Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen
nur einen Festbetrag pro Gerät, der je nach Bundesland zwischen 363 und
508 Euro liegt. In Österreich zahlt die Sozialversicherung für ein Gerät
einen Zuschuss von 710 Euro, für zwei 1278 Euro. Für hochmoderne Geräte
muss der Kunde zuzahlen – bis 1500 Euro pro Gerät. Fünf bis sechs
Jahre halten die Apparate im Schnitt, dann sind neue fällig.
Mancher befürchtet auch einen Imageverlust: "In meinem Alter schon Hörgeräte.
Was werden die Kollegen denken?" Oder pflegt alte Vorurteile: "Die
helfen nicht wirklich. Und schon Onkel Erwin hat erzählt, dass das Ding
ihm ständig im Ohr gepfiffen hat." Dabei sind modere Geräte in der
Lage, Rückkopplungen weitgehend zu verhindern. Viele Schwerhörige wissen
gar nicht, dass es heute Modelle gib mit ausgefeilter Technik, die
vorwiegend die Worte des Gesprächspartners, nicht aber den Umgebungslärm
verstärkt.
Und es wissen immer noch nicht alle Eltern, dass auch Kinder, selbst
Neugeborene schwerhörig sein können. Dabei ist ein Hörgerät für die
kleinen und kleinsten Hörgeschädigten besonders wichtig, damit sie richtig
sprechen lernen und später in der Schule mitkommen.
Überzeugten Hörgeräte-Trägern wie Vetter, Gerlach und Kießling aber
ist bewusst, dass sie "ohne" viel schlimmer dran wären. "Ich könnte meinen Beruf nicht
ausüben", sagt zum Beispiel Anja Vetter.
Auch die privaten Beziehungen würden leiden. Die hörgeschädigte
Schriftstellerin Katharina Billich aus Heidelberg hat das einfühlsam
beschrieben: "Der Mensch gerät ins gesellschaftliche Abseits. Ohne es
zu wollen, sondert er sich ab. Ihm droht die Vereinsamung, die mit einem
zeitweiligen Alleinsein nicht gleichzusetzen ist, sondern die sich tief in
seine Seelenschichten einschleicht."
Einer solchen Entwicklung können moderne Hörsysteme vorbeugen. Erst vor
kurzem haben Wissenschaftler der Universität Maastricht (Niederlande)
nachgewiesen, dass frisch mit Hörgeräten versorgte Patienten schon nach
16 Wochen berichten, besser in ihrem sozialen Umfeld zurechtzukommen. Und was das
bedeutet, weiß der selbst betroffene Professor Jürgen Kießling ganz genau:
"Eine erhebliche
Steigerung der Lebensqualität".
JUDITH RAUCH
*Prof. Dr. Jürgen Kießling: Endlich wieder besser hören. Trias Verlag,
Stuttgart, 14,95 Euro
Wie
kommt es zu Schwerhörigkeit, und was hilft?
Im Außenohr: Fremdkörper, Entzündungen und Tumoren können den
Gehörgang blockieren. Ohrenschmalzpfropfen, die den Gehörgang verschließen,
bilden sich manchmal durch den Gebrauch von Wattestäbchen
– die man besser meiden sollte
–, in seltenen Fällen auch von selbst. Der
HNO-Arzt kann die Pfropfen mit Spezialgeräten entfernen.
Im Mittelohr: Das Mittelohr besteht aus dem Trommelfell und der luftgefüllten
Paukenhöhle. Darin leiten die Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und
Steigbügel den Schall zum Innenohr. Kommt es im Mittelohr zu Flüssigkeitsansammlungen,
Entzündungen oder Tumoren, kann diese Schall-Leitung beeinträchtigt sein.
"Eine außen- oder mittelohrbedingte Schwerhörigkeit kann meist mit Medikamenten
oder operativ geheilt werden", sagt der Gießener Professor für
Audiologie Jürgen Kießling.
Im Innenohr: Das Innenohr ist der Ort der Schallempfindung. Dort sitzt die
Hörschnecke (Cochlea), ein Organ mit zwei schwingenden Membranen und 20.000
hoch empfindlichen Haarzellen. Der im Innenohr ankommende Schall lässt
die Membranen schwingen. Das wiederum reizt die Haarzellen., die die
Schwingungen in Nervenimpulse umwandeln und an den Hörnerv weitergeben.
Die Haarzellen können durch die unterschiedlichsten Einflüsse
geschädigt werden. Diese Schäden sind meist von Dauer. Darum kommen Innenohrschwerhörigkeiten
etwa vier Mal so oft vor wie Schallleitungs-Störungen.
Innenohrschwerhörigkeit wird am häufigsten ausgelöst durch:
1. Den Hörsturz – eine plötzlich und meist einseitig auftretende Hörverschlechterung,
die unter anderem von Durchblutungsstörungen oder Infektionen ausgelöst
wird. "Der Hörsturz muss umgehend medikamentös behandelt werden, damit
die Schwerhörigkeit nicht chronisch wird", sagt Professor Kießling.
2. Laute Beschallung (Schalltrauma) – die einzige Schwerhörigkeit, der man vorbeugen kann.
Gehörschutz an lärmreichen Arbeitsplätzen,
beim Heimwerken oder Motorradfahren sollte darum selbstverständlich sein.
Menschen mit empfindlichen Ohren empfiehlt Kießling, beim Disco- oder
Popkonzert-Besuch das Gehör zu schützen und Ohrstöpsel zu tragen.
3. Die "altersbegleitende Schwerhörigkeit",
ein Schicksal, das den einen früher, den anderen später trifft: Nach
heutigen Erkenntnissen handelt es sich dabei wohl um die Folge sämtlicher
Gehörgefährdungen, denen wir uns im Laufe unseres Lebens aussetzen, etwa
durch laute Beschallung, Durchblutungsstörungen, Ernährungsfehler,
Bluthochdruck oder Diabetes.
Hilfe
und Selbsthilfe
Wer einen schwerhörigen Partner hat (Hörgeräte-Träger oder nicht),
kann ihm mit ein paar einfachen Tricks das Verstehen erleichtern:
1. Unnötige Hintergrundgeräusche (Radio, Fernseher) vermeiden.
2. Vor dem Gespräch Blickkontakt aufnehmen, beim Sprechen das Gesicht
zuwenden.
3. Deutlich und langsam sprechen, damit der Partner auch das Mundbild lesen kann.
4. Möglichst kurze und klare Sätze formulieren.
Der Deutsche Schwerhörigenbund (DSB) unterhält Ortsvereine und
Selbsthilfegruppen in ganz Deutschland. Infos bei der Geschäftsstelle:
Breite Straße 3, 13187 Berlin, Tel. (030) 47 54 11 14,
E-Mail: DSB@schwerhoerigkeit.de.
Für den Austausch unter Hörbehinderten
bewährt sich hervorragend das Internet: www.schwerhoerigkeit.de
Ansprechpartner in Österreich ist der Österreichische
Schwerhörigenbund, Triester Straße 172/1, A-8020 Graz, Tel. (0316) 26 21
57-1, E-Mail: oesb.dachverband@aon.at
Weitere Informationen finden österreichische Betroffene im Internet
unter: www.schwerhoerigen-netz.at
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