Judith Rauch schreibt: Reader´s Digest Januar 2005

Albert Einstein – Zwischen Genie und Gewissen

Es ist der Sommer 1905, als ein junger Beamter mit der Kraft seines Geistes die Welt aus den Angeln hebt. Der 26-jährige veröffentlicht in kurzer Folge vier bahnbrechende Arbeiten: über das Licht, die Bewegung von Teilchen, die Elektrodynamik bewegter Körper und die Energie. Seine Ausführungen nehmen nur wenige Seiten der Zeitschrift Annalen der Physik in Anspruch, doch sie verändern unser Verständnis von Raum und Zeit, ja des ganzen Universums für immer. Und sorgen dafür, dass der Name Einstein zu einem Synonym für Genie wird.

Albert Einstein kommt  am 14. März 1879 als Kind eines Kaufmanns und einer Hausfrau in Ulm zur Welt, und nichts deutet darauf hin, dass aus ihm einmal Großes wird. Im Gegenteil: seine Mutter Pauline hält ihren Erstling zunächst für eine Missgeburt, denn sein Kopf ist viel zu groß.

Mit zweieinhalb Jahren spricht Albert noch nicht. Als er es dann tut, bringt er alle Sätze doppelt hervor. Mit anderen Kindern kann der kleine Albert wenig anfangen, Spielkameraden nennen ihn "Bruder Langweil". Der Junge beschäftigt sich lieber allein, er liebt technisches Spielzeug. Beim Anblick seiner neugeborenen Schwester Maja soll er gefragt haben: "Ja, aber wo hat es denn seine Rädchen?"

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Legende ist Albert Einstein jedoch kein schlechter Schüler. Im Gegenteil: Im Münchner Gymnasium — Familie Einstein ist in die bayerische Hauptstadt gezogen, als Albert 15 Monate alt war — schreibt er in fast allen Fächern gute Noten. Zu Hause löst der Junge zu seinem Vergnügen schwierige Mathematik-Aufgaben. Doch Albert hasst jeden Drill und legt sich mit den Lehrern an. "Ihre bloße Anwesenheit verdirbt mir den Respekt in der Klasse", bescheinigt ihm sein Klassenlehrer. Mit 15 Jahren flieht Einstein von dem verhassten Münchner Gymnasium.

Im Jahr zuvor haben seine Eltern ihre elektrotechnische Firma nach Italien verlegt, sind nach Mailand gezogen und haben den Sohn bei Verwandten zurückgelassen. Nach längeren Diskussionen setzt Albert seinen Wunsch durch, in der deutschsprachigen Schweiz weiterzulernen. In Aarau ist das Klima liberaler als in München.

Mathematisch hoch begabt und an Physik interessiert, wählt Einstein nach dem Schulabschluss für sein Studium das Züricher Polytechnikum, aus dem später die Eidgenössische Technische Hochschule hervorgeht. Doch die Wissenschaft ist nicht das Einzige, was den flotten jungen Mann mit dem Schnauzbart reizt.

Besonders eine Mitstudentin erregt sein Interesse: Mileva Maric, ein "gescheites Luder", wie der Schwabe findet. Die junge Serbin ist in die Schweiz gekommen, weil Frauen hier einen Abschluss machen dürfen. Einstein sieht in ihr eine Verbündete gegen die "Philister" — jene Kleingeister in der Familie und an der Universität, gegen die er ständig Front macht.

Einstein und Maric verlieben sich ineinander. Briefe sind erhalten, in denen sich das Paar schriftlich liebkost: "Am Sonntag küss´ ich dich mündlich". Unter die Zärtlichkeiten mischt sich die Wissenschaft: "Wie glücklich und stolz werde ich sein, wenn wir beide zusammen unsere Arbeit über die Relativbewegung siegreich zu Ende geführt haben", schreibt Albert der Freundin 1901.

Die Historiker streiten darüber, ob Mileva Anteil an Einsteins revolutionären Ideen hat. Kompetente Gesprächspartnerin ist sie ihm auf jeden Fall, ebenso wie eine Handvoll männlicher Freunde. "Akademie Olympia" nennt sich ihr Club. Treffpunkt ist meist Einsteins Wohnung. Dort wird nach einer kargen Abendmahlzeit nächtelang diskutiert — mag das Geld auch knapp sein, an Ideen mangelt es den jungen Gelehrten nicht.

Ebenso wenig wie am Sinn für Humor: Einmal hinterlassen Einstein & Co. einem an jenem Abend verhinderten Freund in seiner Wohnung eine dicke Tabakwolke und einen Zettel mit der lateinischen Aufschrift "amico carissimo fumum spissum et salutem" – auf deutsch: "dem liebsten Freund dicken Rauch und einen Gruß".

1900 ist Albert Einstein 21 Jahre alt, mit dem Studium fertig — und arbeitslos. Er jobbt als Aushilfslehrer, gibt Privatstunden, ergattert 1902 endlich einen Posten als Experte III. Klasse am Berner Patentamt. Seine großen Ideen entwickelt er in der Freizeit — und heimlich im Büro. Die Schublade seines Schreibtischs im Amt soll er scherzhaft sein "Institut für theoretische Physik" genannt haben.

So entstehen sie also, die berühmten Aufsätze von 1905: Die Arbeit über den photoelektrischen Effekt, die beweist, dass man Licht nicht nur als Welle, sondern auch als Strom kleiner Teilchen auffassen muss. Und die Spezielle Relativitätstheorie, die besagt, dass Zeit und Raum keine absoluten Größen sind, sondern davon abhängen, wie sich ein Körper – die Erde, ein fahrender Zug, ein Lichtstrahl – relativ zum anderen bewegt. Aus ihr folgt die wohl berühmteste Formel der Welt, welche die Äquivalenz von Masse und Energie beschreibt: E= mc2.

Während Einstein gedanklich die schwierigsten physikalischen Probleme löst, ist das Genie im Privatleben überfordert: Gleich nach dem Studium möchte Albert Mileva heiraten, aber seine Mutter ist dagegen. Sie findet die Freundin zu alt — Mileva ist drei Jahre älter als Albert — stört sich an ihrer Herkunft und hält sie für zu gescheit: "Sie ist ein Buch wie du, du solltest aber eine Frau haben." Statt dem Philistertum die Stirn zu bieten, zögert Einstein die Hochzeit hinaus.

Mileva wird schwanger. Das Paar verheimlicht die Schwangerschaft, und Mileva bringt das Baby, ein Mädchen namens Lieserl, Ende Januar 1902 in ihrer serbischen Heimat zur Welt, wo es vermutlich zur Adoption freigegeben wird; im Leben von Albert und Mileva taucht die Tochter jedenfalls nicht mehr auf.

Zwar heiraten die beiden im Januar 1903 doch noch und bekommen zwei Söhne, aber wenige Jahre später kriselt es in der Ehe. Albert flirtet mit anderen Frauen, beginnt ein Verhältnis mit seiner Berliner Cousine Elsa. Bei Mileva lässt der intellektuelle Ehrgeiz nach; sie wird zu einer mürrischen Hausfrau. Nach Jahren ständiger, auch handgreiflicher Streitigkeiten wird die Ehe 1919 geschieden.

Für Albert Einstein ist die Trennung ein Befreiungsschlag; er spricht nun von seiner Frau Mileva als einem "amputierten Glied". Und heiratet noch im selben Jahr erneut — eben jene Cousine Elsa.

Gleichzeitig mit dem privaten Neuanfang beginnt Albert Einsteins Weltruhm. 1915 veröffentlicht der Physiker die allgemeine Relativitätstheorie, die der Schwerkraft eine neue Deutung gibt. Eine Sonnenfinsternis bringt 1919 den Beweis, dass sie stimmen muss: Einstein hat richtig vorausberechnet, wie stark das Licht von Fixsternen durch das Schwerefeld der Sonne abgelenkt wird. Die Zeitungen verkünden: "Wissenschaftliche Revolution. Neue Theorie des Universums. Lichter am Himmel alle schief."

Das Genie lebt inzwischen in Berlin. Dort hat ihn die Akademie der Wissenschaften zum gut bezahlten Direktor eines neuen Forschungsinstituts berufen. Für seine Arbeit über den photoelektrischen Effekt erhält Einstein den Physik-Nobelpreis des Jahres 1921. Danach wird er mit Einladungen und Ehrungen aus der ganzen Welt überschüttet, Zeitschriften berichten überschwänglich. Der Wissenschaftler avanciert zum Star, die Frauen umschwärmen ihn. Und der geniale Physiker mit der Schwäche fürs schwache Geschlecht kann nicht widerstehen.

Wissenschaftlich gelingt Einstein nach seinem ganz großen Wurf, der Allgemeinen Relativitätstheorie, nichts Bedeutendes mehr. Im Gegenteil: Der Eigenbrötler manövriert sich ins Abseits. Die Quantentheorie, die in den Zwanzigerjahren von jüngeren Physikern wie Niels Bohr und Werner Heisenberg ausgearbeitet wird, lehnt er ab. Dabei basiert sie auf seinen eigenen Arbeiten.

In der neuen Theorie spielt dem Genie der Zufall eine zu große Rolle: "Gott würfelt nicht", ist sein Kommentar dazu. Für den Rest seines Lebens müht er sich stattdessen ebenso stur wie vergeblich, eine "Weltformel" zu entwickeln, die alle bekannten Naturkräfte auf einen Nenner bringt.

Dafür fällt Einstein eine neue Rolle zu: die des Weltbürgers. Im Deutschland der Zwanzigerjahre wächst der Antisemitismus. Immer häufiger wird Einsteins Relativitätstheorie von deutschen Fachkollegen als "jüdische Physik" verunglimpft. Er selbst wird als Jude und engagierter Pazifist politisch verfolgt. Als 1933 die Nazis an die Macht kommen, emigriert Einstein in die USA. Die Entdeckung der Kernspaltung Ende 1938 in Berlin versetzt die Physiker in den USA in helle Aufregung. Viele von ihnen sind genau wie Einstein vor dem Faschismus geflüchtet und fürchten nun, die Nazis könnten eine Atombombe bauen und einsetzen.

Auf Drängen seines jungen ungarischen Kollegen Leo Szilard schreibt Einstein am 2. August einen Brief an den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und warnt: "Eine einzige Bombe dieser Art, (…) in einem Hafen explodiert, könnte sehr wohl den ganzen Hafen zusammen mit Teilen des umliegenden Gebietes zerstören." Seine Worte verfehlen ihre Wirkung nicht: Die Amerikaner entwickeln die Atombombe in einer Geheimaktion selbst, im August 1945 greifen sie damit die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki an.

Einstein ist vom Ausmaß der Zerstörung zutiefst erschüttert. Wieder schreibt er einen Brief — diesmal öffentlich und an die Vereinten Nationen. Darin schlägt er die Bildung einer Weltregierung vor. Anders als der Brief an Roosevelt hat dieses Schreiben keine Wirkung. In den folgenden zehn Jahren mischt er sich immer stärker in die Politik, setzt sich zusammen mit Kollegen für ein Ende des Wettrüstens ein, nutzt seine Popularität, um für Frieden und Demokratie zu werben.

Als Einstein 1955 mit 76 Jahren stirbt, gilt er als Visionär und Weltbürger ebenso viel wie als wissenschaftliches Genie. Der Philosoph Paul Schilpp bezeichnet ihn gar als "Gewissen der Menschheit". Eine ungewöhnliche Karriere für einen Mann, der sich selbst als "typischen Einspänner" sah, der selbstkritisch erkannte, dass seine "Abneigung gegen jede Bindung, die mir nicht absolut notwendig erschien", ihn "oft in Konflikt mit den Menschen gebracht" hatte. Vielleicht habe Einstein "in der Absage an persönliche Bindungen die Freiheit für das umfassendere Engagement mit dem Weltganzen gesucht", versucht der Psychologe Howard Gardner die Widersprüche in dessen Charakter zu deuten.

Fest steht: Im Großen hat er mehr Erfolg gehabt. Genialen Erfolg.

JUDITH RAUCH


Einstein-Jahr 2005

Die UNESCO hat das Jahr 2005 zum "Welt-Jahr der Physik" erklärt. Einer der Höhepunkte des deutschen Einsteinjahr 2005 - anlässlich des 100. Jahrestags der Relativitätstheorie und des 50. Todestags des genialen Physikers - ist ab Mitte Mai im Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden die Ausstellung "Albert Einstein - Ingenieur des Universums" zu sehen. Das Historische Museum Bern zeigt ab 16. Juni ebenfalls eine umfassende Einstein-Ausstellung.


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