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       Deutschlandforschung: 
        Ethnologen beobachten uns 
        "In 
        erster Linie interessiert nicht Goethe, sondern Hitler" 
         
        Bis in die 80er Jahre galt Deutschland als "wenig erforschtes 
        Gebiet" der Völkerkunde, wie damals die Amerikanerin Diana Forsythe 
        schrieb. Heute halten sich fast hundert Ethnologen aus aller Herren Länder 
        ständig bei uns auf, um unsere Sitten und Gebräuche zu studieren. 
        Psychologie heute sprach mit dem Volkskundler Bernd Jürgen Warneken 
        und dem Ethnologen Prof. Thomas Hauschild über das Interesse der 
        anderen an uns. 
         
        Psychologie heute: Woher kommt der plötzliche Boom der Deutschlandforschung? 
         
        Bernd-Jürgen Warneken: Das Ende der osteuropäischen Systeme 
        und die deutsche Vereinigung waren sicher die wichtigsten Anlässe, 
        die die Frage neu aufgeworfen haben: Was ist dieses Deutschland, das stärkste 
        Land in Mittel- und Westeuropa? Hinter diesem Interesse stecken Angst 
        und Erwartungen, was diese vielen, mächtigen Deutschen jetzt wohl 
        unternehmen werden. Und damit stellt sich auch die Frage, ob das neue 
        Deutschland nicht vielleicht das alte ist oder wieder werden könnte. 
         
        PH: Das alte hieße: Vorkriegsdeutschland? 
         
        Thomas Hauschild: Oder Kriegsdeutschland. Der Boom hat aber noch einen 
        anderen Grund: Die Ethnologen in den USA, die Kulturanthropologen, beschäftigen 
        sich derzeit zunehmend mit europäischen Kulturen. Unter den Deutschlandforschern 
        stellen sie eine Mehrheit von 80 bis 90 Prozent. Das hat nicht nur mit 
        dem Fluss der Forschungsgelder zu tun, der deutlich zugenommen hat. Sondern 
        auch damit, dass die amerikanische Anthropologie eine Wende zur Selbstreflexion 
        durchgemacht hat, unter dem Einfluss von George Devereux und anderen Ethnopsychoanalytikern. 
        Deshalb wendet sie sich modernen Gesellschaften, die der ihren ähnlich 
        sind, stärker zu. 
         
        PH: Will man von Europa lernen? 
         
        Hauschild: Das weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall möchte man 
        sich in der Ethnologie selbst einbeziehen, wenn man das Fremde betrachtet. 
        Und die Amerikaner betrachten ja in der Regel Europa geradezu als einen 
        Teil von sich selbst. In der Dritten Welt ist es anders. Wir haben ja 
        auch einige Deutschlandforscher aus Asien und Afrika gefunden und eingeladen. 
        Dort hat sich die Ethnologie in den letzten zwanzig Jahren erst richtig 
        herausgebildet und steht noch ganz am Anfang. Da interessiert noch das 
        aus der eigenen Sicht Exotische, wie der merkwürdige Umgang der Deutschen 
        mit ihren Hunden. 
         
        PH: Sie beide haben im Herbst 1999 in 
        Tübingen die Tagung "Inspecting Germany" veranstaltet. 
        Erstmals konnten dort ausländische Ethnologen ihre Forschungsergebnisse 
        austauschen. Als Sie im Vorfeld der Tagung die Literatur zu Deutschland 
        gesichtet haben, welche thematischen Schwerpunkte haben Sie festgestellt? 
         
        Warneken: Je nach Herkunftsland und Schule natürlich unterschiedliche. 
        Aber im Wesentlichen sind es zwei Gebiete: Erstens die bereits angesprochene 
        Frage nach dem alten Deutschland, und ob es in der Gegenwart fortlebt, 
        die Frage nach dem NS-Gehalt unserer Gegenwartskultur. Was das Ausland 
        über Deutschland weiß, ist ja erklärlicher- und verständlicherweise 
        vor allem Auschwitz und der Zweite Weltkrieg. Das ist in den Schulen das 
        Thema: in erster Linie interessiert nicht Goethe, sondern Hitler. Und 
        die Forschung hat diese Perspektive auch. 
        Zum Zweiten dominiert ein folkloristisches Interesse an Deutschland: es 
        sieht die Deutschen als altmodisch-wilde, aber doch ungefährliche 
        Figuren - gemütliche Barbaren, die trinken, sich komisch kleiden, 
        jodeln, Fastnacht feiern. 
        Es gibt nur wenige Forscher, die etwas Drittes machen, die uns als Industrieland 
        und modernes Staatsgebilde untersuchen. Diese Richtung nimmt jedoch zu, 
        auch wenn sie nicht dieselbe spannende Anmutung hat wie die beiden erstgenannten 
        Sichtweisen. Wenn man nämlich feststellt: Diese Deutschen sind Angestellte 
        und Beamte, dann ist das ist für die am "Primitiven" interessierte 
        Ethnologie, die das Wilde auch im Zivilisierten sucht, nicht ganz so interessant. 
         
        Hauschild: Diese differenzierte Sicht haben meiner Beobachtung nach die 
        Ethnologen, die ihre Forschung schon sehr lange betreiben. Je länger 
        sie hier sind, desto genauer wird das Bild. Und so soll es auch sein: 
        Lang anhaltende, teilnehmende Beobachtung - das ist das Ideal, nach dem 
        wir Ethnologen streben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Amerikaner 
        John Borneman, der nach langjährigen Studien im geteilten Berlin 
        jetzt den Blick auf das Beamtentum im Umzug und die Baustelle Berlin lenkt. 
        Ich glaube übrigens, dass das rege öffentliche Interesse an 
        unserer Tagung sich aus diesem Zeitpunkt erklärt: Wir Deutschen möchten 
        uns gerade jetzt, bei der Gründung der Berliner Republik, einmal 
        unaufgeregt und distanziert betrachten. Und da sind wir froh, wenn Leute 
        aus dem Ausland kommen und ganz banale Dinge feststellen. Etwa dass sich 
        die Berlin-Touristen mehr für die Zukunft der Stadt als für 
        ihre Vergangenheit interessieren.  
         
        PH: Demnach hat sich nicht so sehr das 
        Bild von Deutschland im Ausland verändert, sondern Deutschland selbst 
        hat sich verändert?  
         
        Hauschild: Ja, wir durchleben eine Phase der Lockerung und Erneuerung, 
        und in einer solchen Phase ist man interessiert an Ethnologen, Soziologen, 
        Psychologen, die etwas zum aktuellen Stand und zu unseren Entscheidungsfreiheiten 
        sagen. In Phasen der Stagnation dominieren eher die Historiker bei der 
        Analyse dessen, was deutsch ist. 
        Was unser Bild im Ausland betrifft, bin ich allerdings überzeugt, 
        dass es bei Stereotypen hängen bleiben wird. Das ist immer so. Jeder 
        Mensch stellt sich bei einer Nation, wenn er sie nicht lange bereist hat, 
        etwas Stereotypes vor. Vielleicht kommt jetzt eine ältere Stereotype 
        wieder hoch, das Goetheanische an den Deutschen. 
         
        Warneken: Dichter und Denker versus Richter und Henker. Die extremen Polaritäten 
        im Bild der Deutschen beginnen ja schon bei Tacitus, der die Germanen 
        in gewissem Sinn als kultiviert, nämlich göttergläubig 
        und sittenstreng, andererseits aber als unberechenbar und aggressiv etikettiert. 
        Im deutschen Selbstbild, das sehr lange auf Tacitus zurückgriff, 
        überwog natürlich das Edle in diesem Barbarentum: Freiheitsliebe, 
        Ehrlichkeit, Treue. Anders in kritischen Fremdbildern: Ihnen zufolge hat 
        der moderne Deutsche die dunklen Seiten des Germanentums geerbt. Der preußische 
        Militarist erscheint als Barbar der Industriegesellschaft. Hitler belebte 
        aktiv unser angeblich barbarisches Erbe und stellte die alten Germanen 
        dem deutschen Volk als Vorbild hin. Nach dem Krieg bezog man sich dann 
        wieder auf Madame de Stael und ihr Bild von den Deutschen als Kulturvolk. 
        Aber auch in diesem Selbstbild lebt der Barbar weiter, denn diese deutsche 
        Kultur wollte ja gerne naturtreuer, gefühlsechter, seelenhafter sein 
        als "bloße Zivilisation". 
         
        PH: Was ist eigentlich der wissenschaftliche 
        Wert einer solchen Suche nach Kontinuitäten in einer anderen Nation, 
        nach einem sich gleich bleibenden Nationalcharakter?  
         
        Hauschild: Ich würde das so erklären: Die verschiedenen Nationen 
        bearbeiten sich gegenseitig mit ihren Ethnologien wie sie sich auch mit 
        ihren Geheimdiensten bearbeiten oder mit ihren Sportteams.  
         
        PH: Es geht also um Wettbewerb? 
         
        Hauschild: Ja, um Wettbewerb. Aber auch um anderes: voneinander lernen, 
        sich gegenseitig betrachten, sich befreunden, sich befeinden. Alle diese 
        Dinge finden auf dem Feld der Ethnologie auch statt. Die Frage ist jedoch: 
        Was macht die kleine Wissenschaftler-Nation der Ethnologen daraus? Sie 
        sind ja eingesetzt in eine große Nation und machen sich ihren eigenen 
        Sinn daraus. Sie sind nicht völlig abhängig von gesellschaftlichen 
        Tendenzen und dem Zeitgeist. Und da ist es faszinierend, dass es sich 
        international eingebürgert hat, Ethnologie als einen Prozess anzusehen, 
        bei dem man eine Wandlung durchmacht. Wenn man lange teilnehmend beobachtet, 
        ist man den anderen Menschen bis zu einem gewissen Grade ausgeliefert, 
        muss sich von ihnen überraschen und bekehren lassen. So wird neben 
        all dem Bespitzeln, Sich-Bekriegen und Sich-Übertrieben-Befreunden 
        - wie zwischen der DDR und der Sowjetunion - noch etwas anderes möglich: 
        Distanz, Bekehrung und eine Veränderung, die man gemeinsam durchmacht. 
        Das ist ähnlich wie bei einer Paarbeziehung. 
         
        Warneken: Jüdische Forscher aus den USA erleben es zum Beispiel häufig, 
        dass ihr heimisches Umfeld es nicht versteht, dass sie sich den Deutschen 
        mit der Methode der Empathie nähern wollen, die ja auch so beschrieben 
        wird: taking the native´s point of view, zu deutsch: die Sichtweise 
        des Eingeborenen einnehmen. "Willst du dich etwa den alten Nazis 
        und ihren Enkeln einfühlsam zuwenden?", werden sie gefragt. 
        Sie praktizieren dann oft eine Kritik in beide Richtungen: eine Kritik 
        der NS-Traditionen hier und zu Hause eine Kritik der ethnisierten Sichtweise, 
        die nicht ausreichend nach Schichten, Generationen, Individuen unterscheidet. 
         
        PH: Die Tagung über Deutschland 
        fand in Deutschland statt, und deutsche Wissenschaftler kommentierten 
        die Ergebnisse ihrer ausländischen Kollegen. So wurden die Beobachteten 
        zu Kritikern, die Inspizierten konnten sich gegen die Inspektoren wehren. 
        Das hat teilweise zu Missverständnissen und Konflikten geführt, 
        etwa um den Vortrag von Ruth Mandel, die die Art, wie heute in Deutschland 
        über Türkenghettos gesprochen wird, verglichen hat mit der Gettoisierung 
        der Juden in der Nazizeit. Fruchtbaren Konflikten? 
         
        Warneken: Der Streit wird nicht offen geführt. Zum Teil werden Gegensätze 
        zwischen Amerikanern offener ausgetragen als manche Gegensätze zwischen 
        Deutschen und Amerikanern. Vielen deutschen Wissenschaftlern auch mir, 
        fällt es schwer, deutlich gegenzuhalten, wenn sie eine Kritik als 
        zu pauschal, schief, uninformiert oder gar feindselig empfinden. Ich hörte 
        nach der Tagung von deutschen Kolleginnen und Kollegen, dass sie diese 
        Ghetto-These nicht richtig fanden, aber sie haben das nicht ausgesprochen. 
        Denn es ist nicht politically correct, sich zu wehren. Da ist man doch 
        sehr demütig. Auf der anderen Seite hat diese Demut ja auch einen 
        Sinn. Wir haben ja wieder diese Fraktion in Deutschland, die nicht mehr 
        über die NS-Zeit reden will und sagt: Das ist geklärt und gegessen 
        und kommt nicht wieder. Von daher ist da immer die Angst da, Applaus von 
        der falschen Seite zu kriegen.  
         
        PH: Neben den Vorwürfen, 
        die Deutschen seien noch in NS-Vorstellungen verhaftet, hörte man 
        auf der Tagung auch andere Töne. Zum Beispiel das Plädoyer des 
        Russen Victor Voronkov aus St. Petersburg, "die Welt" warte 
        "mit Überdruss" darauf, dass die Deutschen aufhören, 
        sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen und sich den Problemen 
        der Gegenwart zuwenden. Wem sollen wir es nun recht machen? 
         
        Hauschild: Das ist eine Gratwanderung. Voronkov fordert ja in diesem einen 
        Satz sehr viele Dinge gleichzeitig. Einerseits sagt er: Die Deutschen 
        beachten uns zu wenig, machen sich zu wenig Gedanken, was im riesigen 
        Osten passiert. Damit hat er völlig Recht. Zum anderen spricht er 
        in diesem Augenblick auch über die russische Vergangenheit und dass 
        er vermutlich nicht allzu viel Lust hat, seine eigene, erst kurz zurückliegende 
        Vergangenheit in der ehemaligen Sowjetunion zu bewältigen. Voronkov 
        ist nach wie vor Marxist, ein kluger neomarxistischer Soziologe. Und er 
        hat vermutlich auch darin recht, dass wir in einer Situation sind, in 
        der wir die Vergangenheit nicht dauernd beschwören sollten wie einen 
        Fetisch, sondern etwas Neues lernen können. Aber wenn wir die Vergangenheit 
        dabei nicht im Kopf haben, dann werden wir dieselben Fehler machen wie 
        vorher! 
         
        PH: Wohin geht der Aufbruch? 
         
        Hauschild: Man kann das deutsche Drama ja auch einmal anders beschreiben. 
        Deutschland ist der problematischste Teil Europas, weil es einfach die 
        Mitte des Kontinents bildet. Wenn in Europa etwas nicht stimmt, dann gehen 
        in Deutschland die Dinge zuerst schief. Deshalb schauen alle Europäer 
        auf uns, nicht als Nation, die einen Willen verkörpert, nicht als 
        Führungsmacht, sondern als eine Art abflussloses Gebiet im Zentrum 
        Europas, so wie es ein abflussloses Gebiet in Afrika gibt. Wir sind verzweigt 
        in die westlichen, nördlichen, südlichen, östlichen Nachbarkulturen 
        hinein. Die jungen Leute in den Zwanzigern sprechen englisch, gehen auf 
        Technopartys und lernen da eine völlig andere, internationale Kultur 
        kennen und vollziehen damit auch einen Bruch mit der Vergangenheit. Die 
        interessiert das doch nicht, wenn ein Historiker mal wieder mahnt... 
         
        Warneken: Es gibt in unseren Fächern eine Linie, die sich erschöpft 
        in der Kritik von völkischen Denktraditionen. Die entdeckt gar nicht 
        mehr diejenigen deutschen Traditionen und Praxen, die schon immer europäisiert 
        waren und die schon immer auf ethnischen Mixturen beruhten. Sie zeigt 
        nicht die deutschen Anstrengungen bei der Integration von Fremden, sondern 
        nur die Abstoßung von Fremden. Aber gerade weil Deutschland immer 
        in der Mitte lag, wurde es von den Nachbarkulturen beeinflusst. Das Italienische 
        war im Süden einflussreich, das Französische im Südwesten 
        und im Westen, und das Slawische kam unter anderem über Österreich 
        ins Deutsche, das Polnische über Schlesien und so fort. Und das wird 
        auch von vielen deutschen Ethnologen und Volkskundlern angstlose und unaggressiv 
        registriert. Von vielen heutigen Fachvertretern wird dagegen unterstellt, 
        es habe von etwa 1800 bis 1945 eine ungebrochene völkische und fremdenfeindliche 
        Ausrichtung dieser Disziplinen gegeben. Diese Richtung gab es, sie war 
        aber vor dem Nationalsozialismus in unseren Fächern nicht an der 
        Macht. 
         
        PH: Eine Woche fremder Blick - sehen 
        Sie als Organisatoren der Tagung "Inspecting Germany" Deutschland 
        jetzt mit anderen Augen? 
         
        Hauschild: Dieses eher zufällige Zusammenspiel zwischen der Tagung, 
        der Gründung der Berliner Republik und Goethes 250. Geburtstag, das 
        werde ich nie vergessen. Dieses Zusammenspiel zwischen Betrachtungen über 
        die tiefsten Tiefen des Alltags und den höchsten Spitzen der Politik 
        und des historischen Wandels, dieses Zusammenklingen der Dinge habe ich 
        als geradezu goetheanisch empfunden!  
         
        Warneken: Ich sehe jetzt etwas mehr ein, dass es eine deutsche Tradition 
        und Kultur gibt. In meinem Fach hat man ja sehr dankbar die Theorie aufgegriffen, 
        dass ethnische Identität ein Konstrukt sei, eine Fiktion, die nur 
        dadurch real wird, dass man an sie glaubt. Auf diese Weise musste man 
        sich nicht getroffen fühlen, wenn andere über die Deutschen 
        redeten. Die Tagung hat dieser bequemen Haltung entgegengearbeitet. Wir 
        lernten nicht nur, dass wir nicht darum herumkommen, von anderen als deutsch 
        identifiziert zu werden, sondern es wurde auch plausibel, dass Deutschsein 
        - als spezifische Geschichtserfahrung, als spezifische Sprachtradition 
        uns so weiter - zwar nicht unsere Identität, aber doch eine unserer 
        Identitäten ausmacht. Dennoch geht es mir weiterhin wie dem jungen 
        Mann, der auf der Demo 1989 auf dem Alexanderplatz zwischen all den Transparenten 
        "Wir sind das Volk" ein Schild trug mit der Botschaft: "Ich 
        bin Volker". Dieser Impuls ist bei mir durch den fremden Blick nicht 
        weggewischt. Der bleibt. 
         
        INTERVIEW: JUDITH RAUCH 
         
         
         
        Der fremde Blick auf 
        uns 
         
        Beispiele 
        aus der Deutschlandforschung 
         
        Deutsche Hunde 
         
        Flavien Ndonko war 25, als er bei einem Privatbesuch in Deutschland zum 
        ersten Mal sah, wie eine Frau einen Hund küsste. Der Mann aus Uganda 
        war schockiert. "Du bist Anthropologe, also beobachte genau, bevor 
        du Fragen stellst!" sagte er sich. Doch er kam aus dem Staunen nicht 
        heraus: Hunde, die auf dem Arm getragen wurden! Hunde, die im Auto fuhren! 
        Hunde auf Bergtour in den Alpen! Flavien Ndonko hatte sein Thema gefunden. 
        Knapp ein Jahr später zog er bei einer deutschen Familie ein, führte 
        Schäferhund "Boris" aus und recherchierte gründlich. 
        Seine Doktorarbeit, die demnächst als Buch veröffentlicht werden 
        soll, wird lange Listen von Hundefuttermarken aus deutschen Supermärkten 
        enthalten und Fotos von deutschen Hundefriedhöfen. Mit anderen Worten: 
        Zeichen einer weitgehenden Humanisierung des Hundes. "Auf die Frage: 
        Was ist ein Hund? würde ich heute antworten: Kein Tier, sondern - 
        ungeachtet seiner vier Beine - Freund, Ehepartner, Vater, Mutter oder 
        Kind", sagt Ndonko. Der Afrikaner macht die "Desintegration 
        der Familie" in Deutschland mit verantwortlich dafür, dass Hunde 
        eine so wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen. 
         
         
        Deutsche Türken 
         
        Längst nicht so gut integriert wie die Hunde: die Immigranten in 
        Deutschland. Mehrere Vorträge auf der Tübinger Tagung beschäftigten 
        sich mit ihrer Rolle. Dr. Ruth Mandel, eine US-Amerikanerin, die in London 
        lehrt, analysierte scharf, wie Begriffe wie "Ausländer" 
        oder auch der gut gemeinte "Mitbürger" Fremde in Deutschland 
        ausgrenzen. In den USA, meint sie, wären die Menschen, die als Gastarbeiter 
        nach Deutschland zogen, längst zu Turkish-Americans oder Kurdish-Americans 
        avanciert. Hier gelten sie vielen noch als "unintegrierbare" 
        Eindringlinge aus "fremden Kulturkreisen". Eine Betonung der 
        Ethnizität, die auch Asker Kartari, München, festgestellt hat. 
        Am Arbeitsplatz jedoch, so hat der türkische Ethnologe beobachtet, 
        wird sie eher heruntergespielt. Erfreulich auch, was sein Landsmann Erol 
        Yildiz, aus der 9. Klasse einer Realschule in Köln-Ehrenfeld zu berichten 
        weiß: Die Jugendlichen bilden zwar Cliquen, zoffen sich oder gehen 
        sich aus dem Weg, nennen einander "doof" oder "Nilpferd" 
        - doch ob es sich um deutsche, italienische oder türkische Nilpferde 
        handelt, ist ihnen ziemlich gleichgültig. Multikulturalität 
        werde von den Ehrenfelder Kindern vorgelebt, so Yildiz, nach dem Motto: 
        Leben und leben lassen. 
         
         
        Deutsche Mütter 
         
        Lisa Hoecklin aus Oxford, Großbritannien, studierte "Konzepte 
        und Praktiken von Mutterschaft" in Deutschland, nachdem sie mit ihrer 
        kleinen Tochter in eine bayerische Kleinstadt gezogen war. Was die Einwohner 
        von einer "guten Mutter" und Hausfrau erwarteten, wurde ihr 
        schnell klar anhand von nachbarlichen Bemerkungen wie: "Stört 
        es Sie nicht, wenn die Fenster schmutzig sind?". Doch auch in dem 
        von einer Psychologin initiierten, von Müttern selbst organisierten 
        Mütterzentrum in der Stadt fühlte die Engländerin sich 
        nicht sicher vor sozialer Kontrolle. Hier wurde die "Natürlichkeit" 
        hochgehalten: Plastikspielzeug war verpönt; stattdessen sollten die 
        Kinder lieber Kürbisse pflanzen und über raschelnde Blätter 
        laufen. Als jemand vorschlug, zur Finanzierung des Mütterzentrums 
        Werbeflächen am Schwarzen Brett zu vermieten, wehrte sich eine Mehrheit 
        gegen solche "Kommerzialisierung" und lehnte ab. Weit entfernt 
        davon, gleiche Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt zu fordern, so Hoecklin, 
        milderten die Mütterzentrumsfrauen nur die Probleme junger Mütter, 
        etwa Armut und Isolation, führten ansonsten aber einen "äußerst 
        konservativen Diskurs" über die Rolle von Müttern in der 
        Gesellschaft. 
         
         
        Deutsche Ingenieure 
         
        Herr Hashiguchi leitet die Niederlassung einer japanischen Firma in Deutschland. 
        Um alle 180 Mitarbeiter schnell kennen zu lernen, geht er mittags in die 
        Kantine, grüßt und scherzt mit jedem - egal, ob Angestellter 
        oder Fließbandarbeiter. Seinem deutschen Stellvertreter gefällt 
        dieses egalitäre Verhalten nicht. - Herr Hashimura, ebenfalls für 
        eine japanische Firma in Deutschland, will drei neue Chefingenieure ernennen. 
        Einer der Kandidaten ist Herr Neumann, der nicht studiert, sondern "nur" 
        eine Technikerschule besucht hat. Die Diplom-Ingenieure der Firma protestieren 
        heftig gegen diese "Bevorzugung". - Zwei Beispiele für 
        "kritische Interaktionen" zwischen Japanern und Deutschen, die 
        die Germanistin Masako Sugitani, Lehrbeauftragte für interkulturelle 
        Kommunikation in Osaka, aufgezeichnet und mit Japanern und Deutschen diskutiert 
        hat. Warum verstehen die Japaner das Statusdenken der Deutschen nicht? 
        Vor dem Hintergrund der japanischen Arbeitswelt wird das klar: Dort definiert 
        sich der Berufstätige nicht über seine Ausbildung, seinen Titel 
        oder sein Spezialgebiet, sondern über seine Firma. Die Firma sorgt 
        für die berufliche Bildung und Weiterbildung; Job-Rotation mit und 
        ohne Aufstieg ist die Regel; formelle Arbeitsplatzbeschreibungen gibt 
        es kaum. Sind die Deutschen also stur? Nicht unbedingt. Auch die deutschen 
        Experten, die Sugitani konsultierte, rieten Herrn Hashimura, den Techniker 
        Neumann zu befördern und sich gegen den Widerstand der Ingenieure 
        durchzusetzen. 
         
         
        Deutsche Vergangenheit 
         
        Das Stochern in der Vergangenheit fördert immer noch Überraschendes 
        zutage. Das erlebte der junge ungarische Ethnologe Balasz Balogh, als 
        er im bayerischen Geretsried untersuchte, was aus den dort nach dem Krieg 
        angesiedelten, vertriebenen Ungarn-Deutschen geworden war. Zwei Jahre 
        erforschte er Brauchtumspflege und Kriegserinnerungen, das Verhältnis 
        zur alten und zur neuen Heimat. Doch erst als er in die Herkunftsgemeinde 
        Pusztavam fuhr, um die wenigen dort zurückgebliebenen Ungarn-Deutschen 
        zu interviewen, erfuhr er von einem Massenmord, für den ein besonders 
        hitlertreuer ungarndeutscher Volksbundführer verantwortlich gewesen 
        war: mehr als 200 jüdische Zwangsarbeiter waren dort im Jahr 1944 
        erschossen worden! Von diesem für den Ort traumatischen Verbrechen 
        hatten ihm die Ex-Pusztavamer in Geretsried kein Wort verraten. Und Balogh, 
        der ahnungslose Forscher, hatte auch noch im Haus des Sohns des (verstorbenen) 
        Haupttäters logiert. Was tun? fragt sich nun ratlos der Ethnologe. 
        Soll er sich jetzt in Kriegsschuld-Fragen stürzen? Sein Material 
        vernichten? Alles neu bewerten? Die Ethnologen-Kollegen in Tübingen 
        waren sich einig: Balogh muss zurück nach Geretsried. 
         
         
        Deutsche Grenze 
         
        Wie nah sind sich Deutsche aus Ost und West eigentlich gekommen - Jahre 
        nach dem Mauerfall? Die Französin Valentine Meunier untersuchte das 
        1992 und 1997 anhand der Nachbargemeinden Gompertshausen in Thüringen 
        und Alsleben in Bayern. Zwei Drittel der Gompertshausener, so stellte 
        sie fest, pendeln zur Arbeit nach Bayern. Auch der Einkauf wird vor allem 
        westlich der ehemaligen Grenze erledigt, obwohl im Gegensatz zu 1992 das 
        gleiche Warenangebot im Osten zu finden ist. In der Freizeit und im sozialen 
        Leben jedoch besteht "die unsichtbare Grenze" fort. Kaum ein 
        thüringischer Jugendlicher verirrt sich in eine bayerische Disko 
        - und umgekehrt. Und abgesehen von ein paar Jägern, Anglern und Freunden 
        des Frühschoppens, die sich über ihre Hobbys näher gekommen 
        sind, haben auch die Älteren wenig grenzüberschreitende Kontakte. 
        Alte Länder- und Konfessionsgrenzen erweisen sich dabei als trennender 
        als die Erinnerung an die Grenzbefestigungen der DDR. Einen Hoffnungsschimmer 
        gibt es immerhin: 1997 wurde die erste Ost-West-Hochzeit gefeiert: Eine 
        Gompertshausenerin nahm einen Alslebener zum Mann! 
         
        JUDITH RAUCH
        
       
       
       
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      zum Thema: Sind wir alle Ex-Germanen? 
      
      
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