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Deutschlandforschung:
Ethnologen beobachten uns
"In
erster Linie interessiert nicht Goethe, sondern Hitler"
Bis in die 80er Jahre galt Deutschland als "wenig erforschtes
Gebiet" der Völkerkunde, wie damals die Amerikanerin Diana Forsythe
schrieb. Heute halten sich fast hundert Ethnologen aus aller Herren Länder
ständig bei uns auf, um unsere Sitten und Gebräuche zu studieren.
Psychologie heute sprach mit dem Volkskundler Bernd Jürgen Warneken
und dem Ethnologen Prof. Thomas Hauschild über das Interesse der
anderen an uns.
Psychologie heute: Woher kommt der plötzliche Boom der Deutschlandforschung?
Bernd-Jürgen Warneken: Das Ende der osteuropäischen Systeme
und die deutsche Vereinigung waren sicher die wichtigsten Anlässe,
die die Frage neu aufgeworfen haben: Was ist dieses Deutschland, das stärkste
Land in Mittel- und Westeuropa? Hinter diesem Interesse stecken Angst
und Erwartungen, was diese vielen, mächtigen Deutschen jetzt wohl
unternehmen werden. Und damit stellt sich auch die Frage, ob das neue
Deutschland nicht vielleicht das alte ist oder wieder werden könnte.
PH: Das alte hieße: Vorkriegsdeutschland?
Thomas Hauschild: Oder Kriegsdeutschland. Der Boom hat aber noch einen
anderen Grund: Die Ethnologen in den USA, die Kulturanthropologen, beschäftigen
sich derzeit zunehmend mit europäischen Kulturen. Unter den Deutschlandforschern
stellen sie eine Mehrheit von 80 bis 90 Prozent. Das hat nicht nur mit
dem Fluss der Forschungsgelder zu tun, der deutlich zugenommen hat. Sondern
auch damit, dass die amerikanische Anthropologie eine Wende zur Selbstreflexion
durchgemacht hat, unter dem Einfluss von George Devereux und anderen Ethnopsychoanalytikern.
Deshalb wendet sie sich modernen Gesellschaften, die der ihren ähnlich
sind, stärker zu.
PH: Will man von Europa lernen?
Hauschild: Das weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall möchte man
sich in der Ethnologie selbst einbeziehen, wenn man das Fremde betrachtet.
Und die Amerikaner betrachten ja in der Regel Europa geradezu als einen
Teil von sich selbst. In der Dritten Welt ist es anders. Wir haben ja
auch einige Deutschlandforscher aus Asien und Afrika gefunden und eingeladen.
Dort hat sich die Ethnologie in den letzten zwanzig Jahren erst richtig
herausgebildet und steht noch ganz am Anfang. Da interessiert noch das
aus der eigenen Sicht Exotische, wie der merkwürdige Umgang der Deutschen
mit ihren Hunden.
PH: Sie beide haben im Herbst 1999 in
Tübingen die Tagung "Inspecting Germany" veranstaltet.
Erstmals konnten dort ausländische Ethnologen ihre Forschungsergebnisse
austauschen. Als Sie im Vorfeld der Tagung die Literatur zu Deutschland
gesichtet haben, welche thematischen Schwerpunkte haben Sie festgestellt?
Warneken: Je nach Herkunftsland und Schule natürlich unterschiedliche.
Aber im Wesentlichen sind es zwei Gebiete: Erstens die bereits angesprochene
Frage nach dem alten Deutschland, und ob es in der Gegenwart fortlebt,
die Frage nach dem NS-Gehalt unserer Gegenwartskultur. Was das Ausland
über Deutschland weiß, ist ja erklärlicher- und verständlicherweise
vor allem Auschwitz und der Zweite Weltkrieg. Das ist in den Schulen das
Thema: in erster Linie interessiert nicht Goethe, sondern Hitler. Und
die Forschung hat diese Perspektive auch.
Zum Zweiten dominiert ein folkloristisches Interesse an Deutschland: es
sieht die Deutschen als altmodisch-wilde, aber doch ungefährliche
Figuren - gemütliche Barbaren, die trinken, sich komisch kleiden,
jodeln, Fastnacht feiern.
Es gibt nur wenige Forscher, die etwas Drittes machen, die uns als Industrieland
und modernes Staatsgebilde untersuchen. Diese Richtung nimmt jedoch zu,
auch wenn sie nicht dieselbe spannende Anmutung hat wie die beiden erstgenannten
Sichtweisen. Wenn man nämlich feststellt: Diese Deutschen sind Angestellte
und Beamte, dann ist das ist für die am "Primitiven" interessierte
Ethnologie, die das Wilde auch im Zivilisierten sucht, nicht ganz so interessant.
Hauschild: Diese differenzierte Sicht haben meiner Beobachtung nach die
Ethnologen, die ihre Forschung schon sehr lange betreiben. Je länger
sie hier sind, desto genauer wird das Bild. Und so soll es auch sein:
Lang anhaltende, teilnehmende Beobachtung - das ist das Ideal, nach dem
wir Ethnologen streben. Ein gutes Beispiel dafür ist der Amerikaner
John Borneman, der nach langjährigen Studien im geteilten Berlin
jetzt den Blick auf das Beamtentum im Umzug und die Baustelle Berlin lenkt.
Ich glaube übrigens, dass das rege öffentliche Interesse an
unserer Tagung sich aus diesem Zeitpunkt erklärt: Wir Deutschen möchten
uns gerade jetzt, bei der Gründung der Berliner Republik, einmal
unaufgeregt und distanziert betrachten. Und da sind wir froh, wenn Leute
aus dem Ausland kommen und ganz banale Dinge feststellen. Etwa dass sich
die Berlin-Touristen mehr für die Zukunft der Stadt als für
ihre Vergangenheit interessieren.
PH: Demnach hat sich nicht so sehr das
Bild von Deutschland im Ausland verändert, sondern Deutschland selbst
hat sich verändert?
Hauschild: Ja, wir durchleben eine Phase der Lockerung und Erneuerung,
und in einer solchen Phase ist man interessiert an Ethnologen, Soziologen,
Psychologen, die etwas zum aktuellen Stand und zu unseren Entscheidungsfreiheiten
sagen. In Phasen der Stagnation dominieren eher die Historiker bei der
Analyse dessen, was deutsch ist.
Was unser Bild im Ausland betrifft, bin ich allerdings überzeugt,
dass es bei Stereotypen hängen bleiben wird. Das ist immer so. Jeder
Mensch stellt sich bei einer Nation, wenn er sie nicht lange bereist hat,
etwas Stereotypes vor. Vielleicht kommt jetzt eine ältere Stereotype
wieder hoch, das Goetheanische an den Deutschen.
Warneken: Dichter und Denker versus Richter und Henker. Die extremen Polaritäten
im Bild der Deutschen beginnen ja schon bei Tacitus, der die Germanen
in gewissem Sinn als kultiviert, nämlich göttergläubig
und sittenstreng, andererseits aber als unberechenbar und aggressiv etikettiert.
Im deutschen Selbstbild, das sehr lange auf Tacitus zurückgriff,
überwog natürlich das Edle in diesem Barbarentum: Freiheitsliebe,
Ehrlichkeit, Treue. Anders in kritischen Fremdbildern: Ihnen zufolge hat
der moderne Deutsche die dunklen Seiten des Germanentums geerbt. Der preußische
Militarist erscheint als Barbar der Industriegesellschaft. Hitler belebte
aktiv unser angeblich barbarisches Erbe und stellte die alten Germanen
dem deutschen Volk als Vorbild hin. Nach dem Krieg bezog man sich dann
wieder auf Madame de Stael und ihr Bild von den Deutschen als Kulturvolk.
Aber auch in diesem Selbstbild lebt der Barbar weiter, denn diese deutsche
Kultur wollte ja gerne naturtreuer, gefühlsechter, seelenhafter sein
als "bloße Zivilisation".
PH: Was ist eigentlich der wissenschaftliche
Wert einer solchen Suche nach Kontinuitäten in einer anderen Nation,
nach einem sich gleich bleibenden Nationalcharakter?
Hauschild: Ich würde das so erklären: Die verschiedenen Nationen
bearbeiten sich gegenseitig mit ihren Ethnologien wie sie sich auch mit
ihren Geheimdiensten bearbeiten oder mit ihren Sportteams.
PH: Es geht also um Wettbewerb?
Hauschild: Ja, um Wettbewerb. Aber auch um anderes: voneinander lernen,
sich gegenseitig betrachten, sich befreunden, sich befeinden. Alle diese
Dinge finden auf dem Feld der Ethnologie auch statt. Die Frage ist jedoch:
Was macht die kleine Wissenschaftler-Nation der Ethnologen daraus? Sie
sind ja eingesetzt in eine große Nation und machen sich ihren eigenen
Sinn daraus. Sie sind nicht völlig abhängig von gesellschaftlichen
Tendenzen und dem Zeitgeist. Und da ist es faszinierend, dass es sich
international eingebürgert hat, Ethnologie als einen Prozess anzusehen,
bei dem man eine Wandlung durchmacht. Wenn man lange teilnehmend beobachtet,
ist man den anderen Menschen bis zu einem gewissen Grade ausgeliefert,
muss sich von ihnen überraschen und bekehren lassen. So wird neben
all dem Bespitzeln, Sich-Bekriegen und Sich-Übertrieben-Befreunden
- wie zwischen der DDR und der Sowjetunion - noch etwas anderes möglich:
Distanz, Bekehrung und eine Veränderung, die man gemeinsam durchmacht.
Das ist ähnlich wie bei einer Paarbeziehung.
Warneken: Jüdische Forscher aus den USA erleben es zum Beispiel häufig,
dass ihr heimisches Umfeld es nicht versteht, dass sie sich den Deutschen
mit der Methode der Empathie nähern wollen, die ja auch so beschrieben
wird: taking the native´s point of view, zu deutsch: die Sichtweise
des Eingeborenen einnehmen. "Willst du dich etwa den alten Nazis
und ihren Enkeln einfühlsam zuwenden?", werden sie gefragt.
Sie praktizieren dann oft eine Kritik in beide Richtungen: eine Kritik
der NS-Traditionen hier und zu Hause eine Kritik der ethnisierten Sichtweise,
die nicht ausreichend nach Schichten, Generationen, Individuen unterscheidet.
PH: Die Tagung über Deutschland
fand in Deutschland statt, und deutsche Wissenschaftler kommentierten
die Ergebnisse ihrer ausländischen Kollegen. So wurden die Beobachteten
zu Kritikern, die Inspizierten konnten sich gegen die Inspektoren wehren.
Das hat teilweise zu Missverständnissen und Konflikten geführt,
etwa um den Vortrag von Ruth Mandel, die die Art, wie heute in Deutschland
über Türkenghettos gesprochen wird, verglichen hat mit der Gettoisierung
der Juden in der Nazizeit. Fruchtbaren Konflikten?
Warneken: Der Streit wird nicht offen geführt. Zum Teil werden Gegensätze
zwischen Amerikanern offener ausgetragen als manche Gegensätze zwischen
Deutschen und Amerikanern. Vielen deutschen Wissenschaftlern auch mir,
fällt es schwer, deutlich gegenzuhalten, wenn sie eine Kritik als
zu pauschal, schief, uninformiert oder gar feindselig empfinden. Ich hörte
nach der Tagung von deutschen Kolleginnen und Kollegen, dass sie diese
Ghetto-These nicht richtig fanden, aber sie haben das nicht ausgesprochen.
Denn es ist nicht politically correct, sich zu wehren. Da ist man doch
sehr demütig. Auf der anderen Seite hat diese Demut ja auch einen
Sinn. Wir haben ja wieder diese Fraktion in Deutschland, die nicht mehr
über die NS-Zeit reden will und sagt: Das ist geklärt und gegessen
und kommt nicht wieder. Von daher ist da immer die Angst da, Applaus von
der falschen Seite zu kriegen.
PH: Neben den Vorwürfen,
die Deutschen seien noch in NS-Vorstellungen verhaftet, hörte man
auf der Tagung auch andere Töne. Zum Beispiel das Plädoyer des
Russen Victor Voronkov aus St. Petersburg, "die Welt" warte
"mit Überdruss" darauf, dass die Deutschen aufhören,
sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen und sich den Problemen
der Gegenwart zuwenden. Wem sollen wir es nun recht machen?
Hauschild: Das ist eine Gratwanderung. Voronkov fordert ja in diesem einen
Satz sehr viele Dinge gleichzeitig. Einerseits sagt er: Die Deutschen
beachten uns zu wenig, machen sich zu wenig Gedanken, was im riesigen
Osten passiert. Damit hat er völlig Recht. Zum anderen spricht er
in diesem Augenblick auch über die russische Vergangenheit und dass
er vermutlich nicht allzu viel Lust hat, seine eigene, erst kurz zurückliegende
Vergangenheit in der ehemaligen Sowjetunion zu bewältigen. Voronkov
ist nach wie vor Marxist, ein kluger neomarxistischer Soziologe. Und er
hat vermutlich auch darin recht, dass wir in einer Situation sind, in
der wir die Vergangenheit nicht dauernd beschwören sollten wie einen
Fetisch, sondern etwas Neues lernen können. Aber wenn wir die Vergangenheit
dabei nicht im Kopf haben, dann werden wir dieselben Fehler machen wie
vorher!
PH: Wohin geht der Aufbruch?
Hauschild: Man kann das deutsche Drama ja auch einmal anders beschreiben.
Deutschland ist der problematischste Teil Europas, weil es einfach die
Mitte des Kontinents bildet. Wenn in Europa etwas nicht stimmt, dann gehen
in Deutschland die Dinge zuerst schief. Deshalb schauen alle Europäer
auf uns, nicht als Nation, die einen Willen verkörpert, nicht als
Führungsmacht, sondern als eine Art abflussloses Gebiet im Zentrum
Europas, so wie es ein abflussloses Gebiet in Afrika gibt. Wir sind verzweigt
in die westlichen, nördlichen, südlichen, östlichen Nachbarkulturen
hinein. Die jungen Leute in den Zwanzigern sprechen englisch, gehen auf
Technopartys und lernen da eine völlig andere, internationale Kultur
kennen und vollziehen damit auch einen Bruch mit der Vergangenheit. Die
interessiert das doch nicht, wenn ein Historiker mal wieder mahnt...
Warneken: Es gibt in unseren Fächern eine Linie, die sich erschöpft
in der Kritik von völkischen Denktraditionen. Die entdeckt gar nicht
mehr diejenigen deutschen Traditionen und Praxen, die schon immer europäisiert
waren und die schon immer auf ethnischen Mixturen beruhten. Sie zeigt
nicht die deutschen Anstrengungen bei der Integration von Fremden, sondern
nur die Abstoßung von Fremden. Aber gerade weil Deutschland immer
in der Mitte lag, wurde es von den Nachbarkulturen beeinflusst. Das Italienische
war im Süden einflussreich, das Französische im Südwesten
und im Westen, und das Slawische kam unter anderem über Österreich
ins Deutsche, das Polnische über Schlesien und so fort. Und das wird
auch von vielen deutschen Ethnologen und Volkskundlern angstlose und unaggressiv
registriert. Von vielen heutigen Fachvertretern wird dagegen unterstellt,
es habe von etwa 1800 bis 1945 eine ungebrochene völkische und fremdenfeindliche
Ausrichtung dieser Disziplinen gegeben. Diese Richtung gab es, sie war
aber vor dem Nationalsozialismus in unseren Fächern nicht an der
Macht.
PH: Eine Woche fremder Blick - sehen
Sie als Organisatoren der Tagung "Inspecting Germany" Deutschland
jetzt mit anderen Augen?
Hauschild: Dieses eher zufällige Zusammenspiel zwischen der Tagung,
der Gründung der Berliner Republik und Goethes 250. Geburtstag, das
werde ich nie vergessen. Dieses Zusammenspiel zwischen Betrachtungen über
die tiefsten Tiefen des Alltags und den höchsten Spitzen der Politik
und des historischen Wandels, dieses Zusammenklingen der Dinge habe ich
als geradezu goetheanisch empfunden!
Warneken: Ich sehe jetzt etwas mehr ein, dass es eine deutsche Tradition
und Kultur gibt. In meinem Fach hat man ja sehr dankbar die Theorie aufgegriffen,
dass ethnische Identität ein Konstrukt sei, eine Fiktion, die nur
dadurch real wird, dass man an sie glaubt. Auf diese Weise musste man
sich nicht getroffen fühlen, wenn andere über die Deutschen
redeten. Die Tagung hat dieser bequemen Haltung entgegengearbeitet. Wir
lernten nicht nur, dass wir nicht darum herumkommen, von anderen als deutsch
identifiziert zu werden, sondern es wurde auch plausibel, dass Deutschsein
- als spezifische Geschichtserfahrung, als spezifische Sprachtradition
uns so weiter - zwar nicht unsere Identität, aber doch eine unserer
Identitäten ausmacht. Dennoch geht es mir weiterhin wie dem jungen
Mann, der auf der Demo 1989 auf dem Alexanderplatz zwischen all den Transparenten
"Wir sind das Volk" ein Schild trug mit der Botschaft: "Ich
bin Volker". Dieser Impuls ist bei mir durch den fremden Blick nicht
weggewischt. Der bleibt.
INTERVIEW: JUDITH RAUCH
Der fremde Blick auf
uns
Beispiele
aus der Deutschlandforschung
Deutsche Hunde
Flavien Ndonko war 25, als er bei einem Privatbesuch in Deutschland zum
ersten Mal sah, wie eine Frau einen Hund küsste. Der Mann aus Uganda
war schockiert. "Du bist Anthropologe, also beobachte genau, bevor
du Fragen stellst!" sagte er sich. Doch er kam aus dem Staunen nicht
heraus: Hunde, die auf dem Arm getragen wurden! Hunde, die im Auto fuhren!
Hunde auf Bergtour in den Alpen! Flavien Ndonko hatte sein Thema gefunden.
Knapp ein Jahr später zog er bei einer deutschen Familie ein, führte
Schäferhund "Boris" aus und recherchierte gründlich.
Seine Doktorarbeit, die demnächst als Buch veröffentlicht werden
soll, wird lange Listen von Hundefuttermarken aus deutschen Supermärkten
enthalten und Fotos von deutschen Hundefriedhöfen. Mit anderen Worten:
Zeichen einer weitgehenden Humanisierung des Hundes. "Auf die Frage:
Was ist ein Hund? würde ich heute antworten: Kein Tier, sondern -
ungeachtet seiner vier Beine - Freund, Ehepartner, Vater, Mutter oder
Kind", sagt Ndonko. Der Afrikaner macht die "Desintegration
der Familie" in Deutschland mit verantwortlich dafür, dass Hunde
eine so wichtige Rolle in der Gesellschaft spielen.
Deutsche Türken
Längst nicht so gut integriert wie die Hunde: die Immigranten in
Deutschland. Mehrere Vorträge auf der Tübinger Tagung beschäftigten
sich mit ihrer Rolle. Dr. Ruth Mandel, eine US-Amerikanerin, die in London
lehrt, analysierte scharf, wie Begriffe wie "Ausländer"
oder auch der gut gemeinte "Mitbürger" Fremde in Deutschland
ausgrenzen. In den USA, meint sie, wären die Menschen, die als Gastarbeiter
nach Deutschland zogen, längst zu Turkish-Americans oder Kurdish-Americans
avanciert. Hier gelten sie vielen noch als "unintegrierbare"
Eindringlinge aus "fremden Kulturkreisen". Eine Betonung der
Ethnizität, die auch Asker Kartari, München, festgestellt hat.
Am Arbeitsplatz jedoch, so hat der türkische Ethnologe beobachtet,
wird sie eher heruntergespielt. Erfreulich auch, was sein Landsmann Erol
Yildiz, aus der 9. Klasse einer Realschule in Köln-Ehrenfeld zu berichten
weiß: Die Jugendlichen bilden zwar Cliquen, zoffen sich oder gehen
sich aus dem Weg, nennen einander "doof" oder "Nilpferd"
- doch ob es sich um deutsche, italienische oder türkische Nilpferde
handelt, ist ihnen ziemlich gleichgültig. Multikulturalität
werde von den Ehrenfelder Kindern vorgelebt, so Yildiz, nach dem Motto:
Leben und leben lassen.
Deutsche Mütter
Lisa Hoecklin aus Oxford, Großbritannien, studierte "Konzepte
und Praktiken von Mutterschaft" in Deutschland, nachdem sie mit ihrer
kleinen Tochter in eine bayerische Kleinstadt gezogen war. Was die Einwohner
von einer "guten Mutter" und Hausfrau erwarteten, wurde ihr
schnell klar anhand von nachbarlichen Bemerkungen wie: "Stört
es Sie nicht, wenn die Fenster schmutzig sind?". Doch auch in dem
von einer Psychologin initiierten, von Müttern selbst organisierten
Mütterzentrum in der Stadt fühlte die Engländerin sich
nicht sicher vor sozialer Kontrolle. Hier wurde die "Natürlichkeit"
hochgehalten: Plastikspielzeug war verpönt; stattdessen sollten die
Kinder lieber Kürbisse pflanzen und über raschelnde Blätter
laufen. Als jemand vorschlug, zur Finanzierung des Mütterzentrums
Werbeflächen am Schwarzen Brett zu vermieten, wehrte sich eine Mehrheit
gegen solche "Kommerzialisierung" und lehnte ab. Weit entfernt
davon, gleiche Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt zu fordern, so Hoecklin,
milderten die Mütterzentrumsfrauen nur die Probleme junger Mütter,
etwa Armut und Isolation, führten ansonsten aber einen "äußerst
konservativen Diskurs" über die Rolle von Müttern in der
Gesellschaft.
Deutsche Ingenieure
Herr Hashiguchi leitet die Niederlassung einer japanischen Firma in Deutschland.
Um alle 180 Mitarbeiter schnell kennen zu lernen, geht er mittags in die
Kantine, grüßt und scherzt mit jedem - egal, ob Angestellter
oder Fließbandarbeiter. Seinem deutschen Stellvertreter gefällt
dieses egalitäre Verhalten nicht. - Herr Hashimura, ebenfalls für
eine japanische Firma in Deutschland, will drei neue Chefingenieure ernennen.
Einer der Kandidaten ist Herr Neumann, der nicht studiert, sondern "nur"
eine Technikerschule besucht hat. Die Diplom-Ingenieure der Firma protestieren
heftig gegen diese "Bevorzugung". - Zwei Beispiele für
"kritische Interaktionen" zwischen Japanern und Deutschen, die
die Germanistin Masako Sugitani, Lehrbeauftragte für interkulturelle
Kommunikation in Osaka, aufgezeichnet und mit Japanern und Deutschen diskutiert
hat. Warum verstehen die Japaner das Statusdenken der Deutschen nicht?
Vor dem Hintergrund der japanischen Arbeitswelt wird das klar: Dort definiert
sich der Berufstätige nicht über seine Ausbildung, seinen Titel
oder sein Spezialgebiet, sondern über seine Firma. Die Firma sorgt
für die berufliche Bildung und Weiterbildung; Job-Rotation mit und
ohne Aufstieg ist die Regel; formelle Arbeitsplatzbeschreibungen gibt
es kaum. Sind die Deutschen also stur? Nicht unbedingt. Auch die deutschen
Experten, die Sugitani konsultierte, rieten Herrn Hashimura, den Techniker
Neumann zu befördern und sich gegen den Widerstand der Ingenieure
durchzusetzen.
Deutsche Vergangenheit
Das Stochern in der Vergangenheit fördert immer noch Überraschendes
zutage. Das erlebte der junge ungarische Ethnologe Balasz Balogh, als
er im bayerischen Geretsried untersuchte, was aus den dort nach dem Krieg
angesiedelten, vertriebenen Ungarn-Deutschen geworden war. Zwei Jahre
erforschte er Brauchtumspflege und Kriegserinnerungen, das Verhältnis
zur alten und zur neuen Heimat. Doch erst als er in die Herkunftsgemeinde
Pusztavam fuhr, um die wenigen dort zurückgebliebenen Ungarn-Deutschen
zu interviewen, erfuhr er von einem Massenmord, für den ein besonders
hitlertreuer ungarndeutscher Volksbundführer verantwortlich gewesen
war: mehr als 200 jüdische Zwangsarbeiter waren dort im Jahr 1944
erschossen worden! Von diesem für den Ort traumatischen Verbrechen
hatten ihm die Ex-Pusztavamer in Geretsried kein Wort verraten. Und Balogh,
der ahnungslose Forscher, hatte auch noch im Haus des Sohns des (verstorbenen)
Haupttäters logiert. Was tun? fragt sich nun ratlos der Ethnologe.
Soll er sich jetzt in Kriegsschuld-Fragen stürzen? Sein Material
vernichten? Alles neu bewerten? Die Ethnologen-Kollegen in Tübingen
waren sich einig: Balogh muss zurück nach Geretsried.
Deutsche Grenze
Wie nah sind sich Deutsche aus Ost und West eigentlich gekommen - Jahre
nach dem Mauerfall? Die Französin Valentine Meunier untersuchte das
1992 und 1997 anhand der Nachbargemeinden Gompertshausen in Thüringen
und Alsleben in Bayern. Zwei Drittel der Gompertshausener, so stellte
sie fest, pendeln zur Arbeit nach Bayern. Auch der Einkauf wird vor allem
westlich der ehemaligen Grenze erledigt, obwohl im Gegensatz zu 1992 das
gleiche Warenangebot im Osten zu finden ist. In der Freizeit und im sozialen
Leben jedoch besteht "die unsichtbare Grenze" fort. Kaum ein
thüringischer Jugendlicher verirrt sich in eine bayerische Disko
- und umgekehrt. Und abgesehen von ein paar Jägern, Anglern und Freunden
des Frühschoppens, die sich über ihre Hobbys näher gekommen
sind, haben auch die Älteren wenig grenzüberschreitende Kontakte.
Alte Länder- und Konfessionsgrenzen erweisen sich dabei als trennender
als die Erinnerung an die Grenzbefestigungen der DDR. Einen Hoffnungsschimmer
gibt es immerhin: 1997 wurde die erste Ost-West-Hochzeit gefeiert: Eine
Gompertshausenerin nahm einen Alslebener zum Mann!
JUDITH RAUCH
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