Judith Rauch schreibt: VDI nachrichten, 20. Oktober 2000

Biotechnik: Nobelpreisträgerin steht Pate für riesiges Forschungsprojekt der Firma Artemis

Millionen Zebrafische zappeln unterm Mikroskop der Forscher

Eine Biotech-Firma führt zurzeit ein gigantisches genetisches Untersuchungsprogramm durch. Innerhalb eines Jahres werden in Tübingen rund 17 Mio. Zebrafische auf Fehler in ihrem Bauplan untersucht. Die verantwortlichen Gene sollen Ausgangspunkt für neue Medikamente sein.

Mittwochnachmittags wird es geschäftig im Fischlabor der Firma Artemis in Tübingen. Dort, wo sonst in 9000 Aquarien mehrere Hunderttausend Zebrafische aller Größen - von den millimeterkleinen, durchsichtigen Babys bis zu den 4 cm langen, hübsch gestreiften Erwachsenen - stumm ihre Bahnen schwimmen, greifen jetzt weißbekittelte Menschen ins Geschehen ein. Sie treffen Vorbereitungen für das, worauf es hier im untersten, feuchtwarmen Stockwerk des Biotech-Unternehmens eigentlich ankommt: Sex. Fisch-Sex.

Ursula Hagner, Biologielaborantin, fährt mit einem kleinen Käscher in ein Glasgefäß - und, schwipp-schwapp, hat sie Schicksal gespielt: Ein schlankes Männchen und ein etwas dickeres Weibchen zappeln im Netz. Sie werden in ein Plastikgefäß umgesetzt, in dem Wasser und ein Büschel grünes Plastikgras auf sie warten - ihr Hochzeitbett.



Inzucht ist Teil des Tübinger Versuchsplans

Zehn oder fünfzehn Boxen füllt Hagner mit Fischpärchen, kennzeichnet sie mit Etiketten, die ihre Abstammung verraten, und stellt sie ins Regal. "Hier kriegen sie viel Licht, dann paaren sie sich lieber", sagt sie. Dass die Fischpärchen allesamt Geschwister sind, das stört hier nicht. Im Gegenteil: Inzucht ist Teil des Versuchsplans.

Schon am nächsten Vormittag wird Ursula Hagner mit einem Teesieb die Früchte der Nacht einsammeln: die befruchteten Eier, die sich bereits eifrig zu teilen beginnen. Die Fischlarven dürfen in ihrer Petrischale noch ein wenig wachsen - vier bis sechs Tage lang. Dann kommen sie unters Mikroskop.

Was das Ganze soll und was es mit Medikamenten-Entwicklung zu tun hat? Das ist nicht einfach zu erklären. "Wir untersuchen hier die Funktion von Genen", sagt Dr. Stefan Schulte-Merker, Forschungsleiter der Artemis Pharmaceuticals GmbH. "Dazu benutzen wir das Modellsystem Fisch. Denn Wirbeltiere sind sich genetisch so ähnlich, dass wir mit 90 % bis 95 % Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass ein Gen, das wir beim Fisch identifizieren, beim Menschen die gleiche Funktion hat."

Schulte-Merkers Chef, Prof. Peter Stadler, CEO der drei Jahre jungen Biotech-Firma mit Sitz in Tübingen und Köln, drückt es noch plastischer aus: "Sie können am Fisch jede menschliche Krankheit studieren - außer Lungenkrankheiten. Denn Fische haben keine Lungen."

Gesucht wird also nach Mutanten aus anderen Indikationsbereichen: Herz/Kreislauf, Blutgefäße, Knochen- und Knorpelbildung. Diese pharmakologisch interessanten Gebiete stehen im Zentrum des Interesses der Artemis-Forscher. Damit aber biologische und medizinische Fragen mit anderem Hintergrund nicht zu kurz kommen, arbeiten Wissenschaftler von Max-Planck-Instituten in Tübingen und Freiburg, von der Universität Heidelberg sowie aus Kliniken und Instituten in Großbritannien und den USA mit an dem gigantischen Projekt, dem die Initiatoren den Namen "Tübingen 2000 Screen" gegeben haben.

Dafür werden in Tübingen, Freiburg und London im Laufe eines Jahres rund 17 Mio. Fischlarven mikroskopiert - "gescreent", wie der Fachausdruck lautet. Sie alle gehen auf nur 99 Stammväter zurück: 99 Zebrafisch-Männchen, die durch ein Bad in einer Chemikalie (Äthylnitrosoharnstoff) "mutagenisiert" worden sind. Infolge des Chemiebades weist die DNS ihrer Spermien besonders viele punktförmige Fehler auf. Die Fehler machen sich allerdings erst bei den Enkeln und Urenkeln bemerkbar, wenn durch Inzucht von Mutter- und Vaterseite zwei defekte Chromosomen zusammenkommen. Diese Fehler zu finden, zu beschreiben und genetisch aufzuklären, das ist die Kernaufgabe des Tübingen-2000-Screens.

Hinrich Habeck sitzt schon seit dem frühen Morgen über dem Mikroskop. Geduldig schiebt er immer wieder eine neue Glasplatte unter das Objektiv. Jede Platte hat sechs Dellen, in denen je rund 25 blauviolett eingefärbte Fischlein aus einem gemeinsamen Gelege liegen. 400 solcher Gelege muss der Biologie-Doktorand in zwei Tagen durchscreenen. Habeck sucht Angiogenese-Mutanten, das sind Fischlarven, die entweder zu viele oder zu wenige Blutgefäße ausbilden. "Die mit zu wenig Gefäßen sind die interessanteren", sagt er. "Denn wenn man deren Gene kennt, kann man vielleicht Proteine entwickeln, die die Gefäß-Neubildung in Tumoren stoppen. Das wäre ein entscheidender Schritt in der Krebstherapie."



Fische mit zu wenig Blutgefäßen sind interessanter

Diese Aussicht ist heiß und doch realistisch. Sie könnte für die erst drei Jahre junge Biotech-Firma den Durchbruch bringen: Erst einen gewinnversprechenden Kontrakt mit einem großen Pharma-Unternehmen. Schließlich dauerhafte Profite aus einem "Blockbuster"-Medikament.

Habecks Arbeit ist monoton: Die meisten Fische sehen unterm Mikroskop völlig unauffällig aus. Nur drei/vier Mal am Tag schlägt sein Puls schneller: "Mit diesem Fisch muss etwas faul sein", erkennt er mit geübtem Auge, das durch keinen Computer zu ersetzen ist. "Der hat ein vergrößertes Herz. Kein Wunder, wenn die Gefäße so mickrig ausgebildet sind!"

Einen solchen Fisch, einen offensichtlich mutierten Phänotyp, fotografiert er dann von allen Seiten. Dabei hilft ihm eine Mikroskop-Kamera und der feine Sortierstab, mit dem er die Fischchen drehen und wenden kann. Dann gibt Habeck eine genaue Beschreibung des Phänotyps samt dessen Stammbaum in die Projekt-Datenbank ein. Er charakterisiert die Mutante mit ein bis drei Sternen (drei für hochinteressant) und gibt an, ob sie weitergezüchtet und auf ihre Gene untersucht werden soll.

Denn das ist der dritte Schritt - nach Kreuzung und Screening unterm Mikroskop: die Kartierung und Klonierung der für den Fehler verantwortlichen Gene. "Dafür stehen heute eine Vielzahl standardisierter molekularbiologischer Verfahren zur Verfügung", sagt Forschungsleiter Schulte-Merker. PCR-Maschinen, automatische Sequenziermaschinen, Laborroboter kommen zum Einsatz und nicht zuletzt hochspezialisiertes Personal. "In zwölf bis 18 Monaten haben wir die Nukleotidsequenz aufge-klärt, kennen also die Buchstabenkette unseres gesuchten Gens."

Die Buchstabenkette: ACCTGACCATTG... oder so ähnlich lautet sie. Sie für den Homo sapiens vollständig zu entschlüsseln, ist das Ziel des weltweiten Humangenomprojekts, dessen knapp bevorstehender Abschluss im Juni 2000 gefeiert wurde.

Bei Artemis hat man dafür nur ein Schulterzucken übrig. "Nun hat man also das Menschen-Genom sequenziert", spottet Dr. Torsten Trowe als Entwicklungsbiologe, u. a. für das Screening der Knochen- und Knorpel-Mutanten zuständig. "Aber man weiß fast nichts über die Funktion. Noch nicht einmal, ob der Mensch 35 000 Gene oder 135 000 Gene hat!"

Bei Artemis steht die Funktion im Vordergrund. Oder, wie es CEO Stadler plakativ formuliert: "Function First! Wir liefern der Pharma-Industrie ein validiertes Target. Ein Zielmolekül, dessen Funktion wir genau beschreiben können." Das sei eben der clevere Ansatz von Artemis, der auf der Forschungsarbeit von Prof. Christiane Nüsslein-Volhard aufbaut.

1997 trafen sich die beiden zum ersten Mal: Die Wissenschaftlerin und der Businessman, damals Chef der Biotechnologie-Abteilung bei der Bayer AG, wurden am Rande einer Konferenz im amerikanischen Salt Lake City einander vorgestellt. Frucht der Begegnung war eine neue Geschäftsidee: das Wissen über das genetische Programm des Modell-Organismus' Zebrafisch für die menschliche Gesundheit zu nutzen. Wenige Monate später war die Firma Artemis geboren.



Wissenschaftlerin und Manager mit Geschäftsidee

Das Fischlabor des Tübinger Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie, an dem Christiane Nüsslein-Volhard arbeitet, bekam so etwas wie einen mutierten Klon-Zwilling in engster Nachbarschaft - nur größer, schöner, kommerzieller. Wissenschaftler liefen über: von der Grundlagen- zur angewandten Forschung, von Uni und Max Planck zum Biotech-Unternehmen.

"Ich arbeitete an einem Labor in England, als ich hörte, dass in Tübingen Artemis gegründet wird", erzählt Dr. Jörg Odenthal, ehemals Doktorand bei Christiane Nüsslein-Volhard. "Und als ich erfuhr, dass sie wieder einen Fisch-Screen machen will, größer und aufwändiger, wollte ich unbedingt dabei sein." So wurde er Koordinator des Projekts, vernetzte die beteiligten Labors und baute die Datenbank auf. Nun flitzt er hin und her zwischen Max-Planck-Institut und Firma und hat ziemlich viel um die Ohren. Nicht anders ergeht es Dr. Brigitte Walderich, der energischen Laborleiterin, Herrscherin über Aquarien, Etiketten und Zeitpläne.

Torsten Trowe träumt beim Anblick des Fotos einer überaus verknöcherten Fischmutante an seinem Monitor von einem Medikament namens "Knochenfix", das Frauen in den Wechseljahren nur gelegentlich einnehmen müssten, um der Osteoporose vorzubeugen. Und er erzählt er von Paul Rounding, dem Leiter Business Development, der zwischen seinen Besuchen bei Bayer, Aventis oder Pfizer in Tübingen vorbeischaut. Wenn der dann Folien für die Präsentationen bei den Großen des Pharma-Business einpackt, dann merkt Trowe genau: "Hier tut sich etwas!"

JUDITH RAUCH



Die Nobelpreis-Idee: Von Fliegenlarven zu Fischmutanten

VDI nachrichten, 20. 10. 00 - Die Tübinger Entwicklungsbiologin Christiane Nüsslein-Volhard und ihr US- Kollege Eric Wieschaus erhielten 1995 den Medizin-Nobelpreis. Ausgezeichnet wurde ihre 1980 veröffentlichte Arbeit über Mutationen, die die Entwicklung von Fliegenlarven beeinflussen. Später wandte Nüsslein-Volhard ihr Interesse dem Zebrafisch zu. 1996 veröffentlichten sie und ihr Team eine Serie von Arbeiten, in denen sie 372 entwicklungsrelevante Gene identifizierten. 1997 gründete Nüsslein-Volhard zusammen mit dem Ex-Bayer-Manager Peter Stadler und dem Kölner Mausgenetiker Klaus Rajewski die Artemis Pharmaceuticals GmbH. Die Biologin unterstützt die Firma als Ideengeberin und Beraterin. (jr)

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