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Biotechnik:
Nobelpreisträgerin steht Pate für riesiges Forschungsprojekt
der Firma Artemis
Millionen
Zebrafische zappeln unterm Mikroskop der Forscher
Eine Biotech-Firma führt zurzeit
ein gigantisches genetisches Untersuchungsprogramm durch. Innerhalb eines
Jahres werden in Tübingen rund 17 Mio. Zebrafische auf Fehler in
ihrem Bauplan untersucht. Die verantwortlichen Gene sollen Ausgangspunkt
für neue Medikamente sein.
Mittwochnachmittags wird es geschäftig
im Fischlabor der Firma Artemis in Tübingen. Dort, wo sonst in 9000
Aquarien mehrere Hunderttausend Zebrafische aller Größen -
von den millimeterkleinen, durchsichtigen Babys bis zu den 4 cm langen,
hübsch gestreiften Erwachsenen - stumm ihre Bahnen schwimmen, greifen
jetzt weißbekittelte Menschen ins Geschehen ein. Sie treffen Vorbereitungen
für das, worauf es hier im untersten, feuchtwarmen Stockwerk des
Biotech-Unternehmens eigentlich ankommt: Sex. Fisch-Sex.
Ursula Hagner, Biologielaborantin, fährt mit einem kleinen Käscher
in ein Glasgefäß - und, schwipp-schwapp, hat sie Schicksal
gespielt: Ein schlankes Männchen und ein etwas dickeres Weibchen
zappeln im Netz. Sie werden in ein Plastikgefäß umgesetzt,
in dem Wasser und ein Büschel grünes Plastikgras auf sie warten
- ihr Hochzeitbett.
Inzucht
ist Teil des Tübinger Versuchsplans
Zehn oder fünfzehn Boxen füllt
Hagner mit Fischpärchen, kennzeichnet sie mit Etiketten, die ihre
Abstammung verraten, und stellt sie ins Regal. "Hier kriegen sie
viel Licht, dann paaren sie sich lieber", sagt sie. Dass die Fischpärchen
allesamt Geschwister sind, das stört hier nicht. Im Gegenteil: Inzucht
ist Teil des Versuchsplans.
Schon am nächsten Vormittag wird Ursula Hagner mit einem Teesieb
die Früchte der Nacht einsammeln: die befruchteten Eier, die sich
bereits eifrig zu teilen beginnen. Die Fischlarven dürfen in ihrer
Petrischale noch ein wenig wachsen - vier bis sechs Tage lang. Dann kommen
sie unters Mikroskop.
Was das Ganze soll und was es mit Medikamenten-Entwicklung zu tun hat?
Das ist nicht einfach zu erklären. "Wir untersuchen hier die
Funktion von Genen", sagt Dr. Stefan Schulte-Merker, Forschungsleiter
der Artemis Pharmaceuticals GmbH. "Dazu benutzen wir das Modellsystem
Fisch. Denn Wirbeltiere sind sich genetisch so ähnlich, dass wir
mit 90 % bis 95 % Wahrscheinlichkeit davon ausgehen können, dass
ein Gen, das wir beim Fisch identifizieren, beim Menschen die gleiche
Funktion hat."
Schulte-Merkers Chef, Prof. Peter Stadler, CEO der drei Jahre jungen Biotech-Firma
mit Sitz in Tübingen und Köln, drückt es noch plastischer
aus: "Sie können am Fisch jede menschliche Krankheit studieren
- außer Lungenkrankheiten. Denn Fische haben keine Lungen."
Gesucht wird also nach Mutanten aus anderen Indikationsbereichen: Herz/Kreislauf,
Blutgefäße, Knochen- und Knorpelbildung. Diese pharmakologisch
interessanten Gebiete stehen im Zentrum des Interesses der Artemis-Forscher.
Damit aber biologische und medizinische Fragen mit anderem Hintergrund
nicht zu kurz kommen, arbeiten Wissenschaftler von Max-Planck-Instituten
in Tübingen und Freiburg, von der Universität Heidelberg sowie
aus Kliniken und Instituten in Großbritannien und den USA mit an
dem gigantischen Projekt, dem die Initiatoren den Namen "Tübingen
2000 Screen" gegeben haben.
Dafür werden in Tübingen, Freiburg und London im Laufe eines
Jahres rund 17 Mio. Fischlarven mikroskopiert - "gescreent",
wie der Fachausdruck lautet. Sie alle gehen auf nur 99 Stammväter
zurück: 99 Zebrafisch-Männchen, die durch ein Bad in einer Chemikalie
(Äthylnitrosoharnstoff) "mutagenisiert" worden sind. Infolge
des Chemiebades weist die DNS ihrer Spermien besonders viele punktförmige
Fehler auf. Die Fehler machen sich allerdings erst bei den Enkeln und
Urenkeln bemerkbar, wenn durch Inzucht von Mutter- und Vaterseite zwei
defekte Chromosomen zusammenkommen. Diese Fehler zu finden, zu beschreiben
und genetisch aufzuklären, das ist die Kernaufgabe des Tübingen-2000-Screens.
Hinrich Habeck sitzt schon seit dem frühen Morgen über dem Mikroskop.
Geduldig schiebt er immer wieder eine neue Glasplatte unter das Objektiv.
Jede Platte hat sechs Dellen, in denen je rund 25 blauviolett eingefärbte
Fischlein aus einem gemeinsamen Gelege liegen. 400 solcher Gelege muss
der Biologie-Doktorand in zwei Tagen durchscreenen. Habeck sucht Angiogenese-Mutanten,
das sind Fischlarven, die entweder zu viele oder zu wenige Blutgefäße
ausbilden. "Die mit zu wenig Gefäßen sind die interessanteren",
sagt er. "Denn wenn man deren Gene kennt, kann man vielleicht Proteine
entwickeln, die die Gefäß-Neubildung in Tumoren stoppen. Das
wäre ein entscheidender Schritt in der Krebstherapie."
Fische
mit zu wenig Blutgefäßen sind interessanter
Diese Aussicht ist heiß und doch
realistisch. Sie könnte für die erst drei Jahre junge Biotech-Firma
den Durchbruch bringen: Erst einen gewinnversprechenden Kontrakt mit einem
großen Pharma-Unternehmen. Schließlich dauerhafte Profite
aus einem "Blockbuster"-Medikament.
Habecks Arbeit ist monoton: Die meisten Fische sehen unterm Mikroskop
völlig unauffällig aus. Nur drei/vier Mal am Tag schlägt
sein Puls schneller: "Mit diesem Fisch muss etwas faul sein",
erkennt er mit geübtem Auge, das durch keinen Computer zu ersetzen
ist. "Der hat ein vergrößertes Herz. Kein Wunder, wenn
die Gefäße so mickrig ausgebildet sind!"
Einen solchen Fisch, einen offensichtlich mutierten Phänotyp, fotografiert
er dann von allen Seiten. Dabei hilft ihm eine Mikroskop-Kamera und der
feine Sortierstab, mit dem er die Fischchen drehen und wenden kann. Dann
gibt Habeck eine genaue Beschreibung des Phänotyps samt dessen Stammbaum
in die Projekt-Datenbank ein. Er charakterisiert die Mutante mit ein bis
drei Sternen (drei für hochinteressant) und gibt an, ob sie weitergezüchtet
und auf ihre Gene untersucht werden soll.
Denn das ist der dritte Schritt - nach Kreuzung und Screening unterm Mikroskop:
die Kartierung und Klonierung der für den Fehler verantwortlichen
Gene. "Dafür stehen heute eine Vielzahl standardisierter molekularbiologischer
Verfahren zur Verfügung", sagt Forschungsleiter Schulte-Merker.
PCR-Maschinen, automatische Sequenziermaschinen, Laborroboter kommen zum
Einsatz und nicht zuletzt hochspezialisiertes Personal. "In zwölf
bis 18 Monaten haben wir die Nukleotidsequenz aufge-klärt, kennen
also die Buchstabenkette unseres gesuchten Gens."
Die Buchstabenkette: ACCTGACCATTG... oder so ähnlich lautet sie.
Sie für den Homo sapiens vollständig zu entschlüsseln,
ist das Ziel des weltweiten Humangenomprojekts, dessen knapp bevorstehender
Abschluss im Juni 2000 gefeiert wurde.
Bei Artemis hat man dafür nur ein Schulterzucken übrig. "Nun
hat man also das Menschen-Genom sequenziert", spottet Dr. Torsten
Trowe als Entwicklungsbiologe, u. a. für das Screening der Knochen-
und Knorpel-Mutanten zuständig. "Aber man weiß fast nichts
über die Funktion. Noch nicht einmal, ob der Mensch 35 000 Gene oder
135 000 Gene hat!"
Bei Artemis steht die Funktion im Vordergrund. Oder, wie es CEO Stadler
plakativ formuliert: "Function First! Wir liefern der Pharma-Industrie
ein validiertes Target. Ein Zielmolekül, dessen Funktion wir genau
beschreiben können." Das sei eben der clevere Ansatz von Artemis,
der auf der Forschungsarbeit von Prof. Christiane Nüsslein-Volhard
aufbaut.
1997 trafen sich die beiden zum ersten Mal: Die Wissenschaftlerin und
der Businessman, damals Chef der Biotechnologie-Abteilung bei der Bayer
AG, wurden am Rande einer Konferenz im amerikanischen Salt Lake City einander
vorgestellt. Frucht der Begegnung war eine neue Geschäftsidee: das
Wissen über das genetische Programm des Modell-Organismus' Zebrafisch
für die menschliche Gesundheit zu nutzen. Wenige Monate später
war die Firma Artemis geboren.
Wissenschaftlerin
und Manager mit Geschäftsidee
Das Fischlabor des Tübinger Max-Planck-Instituts
für Entwicklungsbiologie, an dem Christiane Nüsslein-Volhard
arbeitet, bekam so etwas wie einen mutierten Klon-Zwilling in engster
Nachbarschaft - nur größer, schöner, kommerzieller. Wissenschaftler
liefen über: von der Grundlagen- zur angewandten Forschung, von Uni
und Max Planck zum Biotech-Unternehmen.
"Ich arbeitete an einem Labor in England, als ich hörte, dass
in Tübingen Artemis gegründet wird", erzählt Dr. Jörg
Odenthal, ehemals Doktorand bei Christiane Nüsslein-Volhard. "Und
als ich erfuhr, dass sie wieder einen Fisch-Screen machen will, größer
und aufwändiger, wollte ich unbedingt dabei sein." So wurde
er Koordinator des Projekts, vernetzte die beteiligten Labors und baute
die Datenbank auf. Nun flitzt er hin und her zwischen Max-Planck-Institut
und Firma und hat ziemlich viel um die Ohren. Nicht anders ergeht es Dr.
Brigitte Walderich, der energischen Laborleiterin, Herrscherin über
Aquarien, Etiketten und Zeitpläne.
Torsten Trowe träumt beim Anblick des Fotos einer überaus verknöcherten
Fischmutante an seinem Monitor von einem Medikament namens "Knochenfix",
das Frauen in den Wechseljahren nur gelegentlich einnehmen müssten,
um der Osteoporose vorzubeugen. Und er erzählt er von Paul Rounding,
dem Leiter Business Development, der zwischen seinen Besuchen bei Bayer,
Aventis oder Pfizer in Tübingen vorbeischaut. Wenn der dann Folien
für die Präsentationen bei den Großen des Pharma-Business
einpackt, dann merkt Trowe genau: "Hier tut sich etwas!"
JUDITH RAUCH
Die
Nobelpreis-Idee: Von Fliegenlarven zu Fischmutanten
VDI nachrichten, 20. 10. 00 - Die Tübinger
Entwicklungsbiologin Christiane Nüsslein-Volhard und ihr US- Kollege
Eric Wieschaus erhielten 1995 den Medizin-Nobelpreis. Ausgezeichnet wurde
ihre 1980 veröffentlichte Arbeit über Mutationen, die die Entwicklung
von Fliegenlarven beeinflussen. Später wandte Nüsslein-Volhard
ihr Interesse dem Zebrafisch zu. 1996 veröffentlichten sie und ihr
Team eine Serie von Arbeiten, in denen sie 372 entwicklungsrelevante Gene
identifizierten. 1997 gründete Nüsslein-Volhard zusammen mit
dem Ex-Bayer-Manager Peter Stadler und dem Kölner Mausgenetiker Klaus
Rajewski die Artemis Pharmaceuticals GmbH. Die Biologin unterstützt
die Firma als Ideengeberin und Beraterin. (jr)
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